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Unterwegs zum Urgrund des Seins

Verborgene Wahrheiten, Versenkung in göttliche Tiefen, Selbstaufgabe und überfließende Liebe: Mystische Erfahrung hat viele Gesichter. Eine neue UK-Serie lädt dazu ein, mit Mystikerinnen und Mystikern neue Seiten des Glaubens zu entdecken

© epd-bild / Gustavo Alabiso

Der katholische Theologe Karl Rahner schrieb 1971: „Der Fromme von morgen wird ein ,Mystiker‘ sein, einer, der etwas ,erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die (…) selbstverständliche öffentliche Überzeugung (…) aller mitgetragen wird.“ Er sollte recht behalten. Insbesondere im christlichen „Abendland“ leuchten die traditionellen Dogmen und Konzepte immer weniger ein. Das Interesse an Formen christlicher und außerchristlicher Mystik nimmt hingegen zu.

Eine Glaubensform am Rand der verfassten Kirche

Viele Suchende haben insbesondere aufgrund östlicher Methoden (wie Yoga oder Zen-Meditation) eine religiöse Bewusstseinserweiterung erlebt. Nicht wenige von ihnen haben gefragt, ob Schätze der Meditation und Mystik wirklich nur im Osten zu heben sind. Dabei sind manche auf Texte und Übungswege gestoßen, die es auch im Christentum immer als Unterströmung gegeben hat, die oft von den religiösen Institutionen beargwöhnt oder gar verfolgt wurden und in Vergessenheit gerieten.
Der Ausdruck Mystik geht auf das altgriechische Wort mystikós („geheimnisvoll“) oder auf myein („Mund und/oder Augen schließen“) zurück. Es geht um geheimnisvolle Erfahrungen, die sich einstellen können, wenn die äußeren Sinne zurücktreten und sich der Mensch nach innen wendet. Dabei geht es nicht um ein Nachdenken über Gott als vielmehr um ein inneres Spüren und Ausschauhalten. In monotheistischen Religionen ist mystische Erfahrung Gotteserfahrung, Einswerden mit Gott als dem Urgrund des Seins und der Seele, als „innerstes Innen“ (Augustinus) oder – in den orthodoxen Kirchen des Ostens – „Schau des ungeschaffenen Taborlichts“. In seinen Lebensbekenntnissen („Confessiones“) schreibt Augustinus: „Spät habe ich dich geliebt, du Schönheit, ewig alt und ewig neu; spät habe ich dich geliebt. Du warst in meinem Innern; ich aber suchte dich draußen.“
Ob Christentum, Islam, Hinduismus oder Buddhismus: Der mystische Erfahrungsweg, der sich in allen Religionen ähnelt, führt häufig zu mehr interreligiöser Toleranz und Weite und zur Bereitschaft, von den Wegen anderer zu lernen. Dabei treten die Streitfragen eher zurück.
Schon in der Bibel, zum Beispiel in den Psalmen und insbesondere im Neuen Testament, wird zur inneren Erfahrung und zur Gottesschau jenseits von Riten, Konzepten und Traditionen eingeladen: „Selig sind, die ein reines Herz haben. Denn sie werden Gott schauen“ (Matthäus 5, 8); „Gott ist Geist; und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Johannes 4, 24).
Immer wieder wird das „Einwohnen“ Gottes oder Christi im Herzen hervorgehoben. Paulus spricht von überwältigenden eigenen mystischen Erfahrungen. Eine Christusvision hat aus dem Verfolger Christi den glühendsten Missionar des Christentums gemacht.

Das Neue Testament kennt das „Einwohnen Christi“

Bei den Kirchenvätern der frühen Christenheit finden sich zahlreiche Bilder und Hinweise auf die Erfahrungsdimension des Glaubens. Dabei greifen sie nicht nur auf die Bibel zurück, sondern auch auf die griechische Philosophie, insbesondere den Neuplatonismus. Dort wird die äußere materielle Welt häufig abgewertet und von der geistlichen Innenwelt getrennt, während die Bibel die sichtbare und die unsichtbare Welt als zwei Aspekte der Einen Wirklichkeit zugleich unterscheidet und verbindet.
In den Klöstern des Mittelalters, nicht zuletzt in den Frauenorden, blüht die Mystik auf – auch als Gegenbewegung zur ausufernden wissenschaftlichen Rationalität der Universitäten, ihren Streitereien und Spitzfindigkeiten. Die mystische Theologie greift dabei vor allem auf die „Negative Theologie“ des Dionysius Areopagita zurück, der von der Unerkennbarkeit Gottes für die Vernunft sprach. Der Franziskaner Johannes Bonaventura, „Fürst unter allen Mystikern“, unterscheidet eine mit den fünf inneren, geistlichen Sinnen erfahrbare Wirklichkeit von einem rein lehrhaften theologischen Wissen. Dabei gibt es auch innerhalb der mittelalterlichen Mystik zwei deutlich unterscheidbare Stränge: eine mehr intellektuelle Tradition (Meister Eckhard, Nikolaus von Kues) und eine stärker affektiv-emotionale – besonders in der Frauenmystik, in der die Gottes­erfahrung geradezu erotische Züge annehmen kann.

Kritische Haltung des Protestantismus

Der Protestantismus hatte meist eine zwiespältige bis ablehnende Haltung zur Mystik. Der junge Luther begeisterte sich für den Mystiker Johannes Tauler und für eine anonyme mystische Schrift, die er fast der Bibel gleichstellte und unter dem Titel „Eine Theologia Deutsch“ zweimal herausgab. Seine eigene Theologie lebte aus der Erfahrung der bedingungslosen Gnade Gottes. Die Lektüre des Römerbriefs hatte dieses Befreiungserlebnis in seiner angefochtenen Seele bewirkt. Erfahrung, vor allem auch die Erfahrung des Leidens und der Anfechtung, nicht Lesen und Studieren, macht einen Theologen seiner Meinung nach aus. Dennoch – und aufgrund seiner eigenen Biographie – misstraute er jedem religiösen Erleben, das nicht unmittelbar an die Heilige Schrift gekoppelt war. Alle, die von dieser Sicht abwichen, verteufelte er als „Schwarmgeister“.
Das hat den Protestantismus – mit einigen Ausnahmen wie Gerhard Tersteegen oder Jakob Böhme – lange geprägt. Erst Ende des 20. Jahrhunderts setzte auch im evangelischen Bereich eine Neuentdeckung der Mystik ein.

In loser Folge werden wir im Laufe des kommenden Jahres Frauen und Männer vorstellen, für die mystische Erfahrungen und Traditionen bei ihrer Suche nach Gott entscheidend waren. Das erste Porträt dieser Reihe wird sich Jesus als Mystiker widmen.