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Übergriffe in Arztpraxen kommen nur selten ans Tageslicht

Missbrauch an Schulen, in Sportvereinen oder Familien – darüber wird verstärkt aufgeklärt. Im medizinischen Bereich sind Grenzverletzungen dagegen oft weiterhin ein Tabu. Ombudsstellen sollen dies ändern.

Eine junge Frau liegt auf dem Bauch auf einer Liege im Behandlungszimmer. Ein Arzt untersucht sie, sie hat Schmerzen im Rücken. Als sie sich unvermittelt umdreht, sieht sie, dass der Arzt ein Smartphone in der Hand hält. Sie fragt ihn, ob er Fotos gemacht habe, der Arzt verneint. Die Frau lässt das Geschehen nicht los. Sie wendet sich, nach einem Tipp von einer Freundin, an die Ombudsstelle der Landesärztekammer Hessen.

Als erste Ärztekammer in Deutschland hat die hessische Kammer 2013 eine Ombudsstelle für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen eingerichtet. Sie bietet seither Patientinnen und Patienten, die Grenzverletzungen erlebt haben, eine vertrauliche Beratungsmöglichkeit.

Die Frau führt mit der Ombudsstelle ein Gespräch, doch sie entscheidet sich, nichts gegen den Arzt zu unternehmen. Sie denkt: “Vielleicht habe ich mich ja geirrt.”

Ein Jahr später wird erneut eine Patientin bei der Ombudsstelle vorstellig: Auch sie war bei jenem Arzt in Behandlung und bezweifelt, dass alle Berührungen des Arztes medizinisch notwendig waren. Sie will Anzeige erstatten – und nun ist auch die erste Patientin bereit, den Vorfall anzuzeigen.

Der Fall basiert auf einer wahren Begebenheit, und er ist kein Einzelfall. Doch nur selten kommen solche Übergriffe ans Tageslicht. #MeToo, die Bewegung, die sich 2017 an den Missbrauchstaten des US-Filmproduzenten Harvey Weinstein entzündete, hat Arztpraxen und Krankenhäuser – wenn überhaupt – nur am Rande erreicht.

Als das hessische Landesärztekammerpräsidium die Einrichtung der Ombudsstelle anregte, hatten manche Bedenken: Andere Kammern hatten das doch auch nicht, warum sollte es eine solche Stelle ausgerechnet bei ihnen geben? War denn Missbrauch in ärztlicher Behandlung in Hessen ein besonderes Problem? “Natürlich nicht”, sagt Meinhard Korte, der die Ombudsstelle seitdem leitet.

Doch das Thema ist Tabu. Patientinnen und Patienten schweigen oft; der Verdacht, dass ein Arzt sich ihnen gegenüber übergriffig verhalten haben könnte, ist zu ungeheuerlich. “Es dauert manchmal Jahre, ehe die Betroffenen sich jemandem anvertrauen”, weiß Korte. Die Sorge sei groß, dass ihnen niemand glaubt. Dazu kämen Scham und Vorwürfe wie: “Ich bin ja selbst schuld und habe mitgemacht, ich hätte mich früher dagegen wehren müssen.” Doch Betroffene treffe keine Schuld, stellt Korte klar: “Der Verantwortliche für übergriffiges Verhalten ist immer der Arzt.”

Denn die Macht im Arzt-Patienten-Verhältnis ist ungleich verteilt, der Patient steht in Abhängigkeit zum Arzt und muss mitunter intime Details offenbaren. Er ist darauf angewiesen, dass der Rahmen geschützt ist und der Arzt nur das tut, was seinem Auftrag entspricht: nämlich ihn zu behandeln. “Persönliche Bedürfnisse des Arztes, seien sie finanziell, emotional oder erst recht sexuell, haben in der Arzt-Patienten-Beziehung nichts verloren”, betont Korte.

Schon ein Arzt, der größere Geschenke von seinen Patienten annimmt, übertritt eine Grenze. Private Kontakte, Einladungen, Vergünstigungen, die ein Patient seinem Arzt einräumt, sind ebenso tabu wie eine sexuelle Beziehung, selbst wenn diese einvernehmlich erfolgt.

Das ist in den Berufsordnungen der Ärzte, die von der jeweiligen Landesärztekammer – insgesamt gibt es 17 – für die in ihrem Bereich tätigen Ärzte, festgelegt. Darin heißt es zum Beispiel, dass Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihnen entgegengebrachte Vertrauen zu entsprechen haben. Das ärztliche Handeln müsse ausschließlich am Wohl der Patientinnen und Patienten ausgerichtet werden.

In der Regel folgen Ärzte diesem Auftrag. Aber eben nicht immer. Die Frage, wie häufig Grenzen überschritten werden, ist nicht einfach zu beantworten. Zwar gehen bei den Landesärztekammern jedes Jahr hunderte Beschwerden ein. Die Klagen reichen von langen Wartezeiten über eine unzureichende Aufklärung bis hin zu nicht korrekt ausgefertigten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Übergriffiges Verhalten oder gar Missbrauch werden nicht überall eigens erfasst, und wenn doch, handelt es sich nach Aussage der Kammern um seltene Fälle.

Die Ärztekammer Nordrhein beispielsweise spricht von rund 2.000 Beschwerden pro Jahr, darunter zehn, die einen Bezug zu einer mutmaßlichen sexuellen Belästigung oder Nötigung aufwiesen. Dazu kämen 20 bis 30 Beschwerden über verbale Anzüglichkeiten. Die Ärztekammer Berlin hat nach eigenen Angaben im Jahr 2023 rund 1.900 Beschwerden über berufsrechtliche Pflichtverletzungen bearbeitet. Bei 29 habe es sich um Beschwerden zu sexuellen Übergriffen gehandelt; das könnten verbale und/oder körperliche Übergriffe mit oder ohne sexuellen Bezug sein. Die Landesärztekammer Brandenburg gibt die Zahl der Grenzverletzungen im unteren zweistelligen Bereich bei insgesamt 500 Beschwerden an.

Dass diese Zahlen nur einen Teil der Realität wiedergeben, davon ist Meinhard Korte überzeugt: “Wer sich bei der Kammer beschwert, muss seinen Namen nennen und den des Arztes, davor schrecken viele zurück.” Die Ombudsstelle bietet dagegen auch die Möglichkeit, anonym zu bleiben. “Die Betroffenen können im Gespräch mit mir erst einmal klären, was da war.”

Pro Jahr wird Korte von rund 50 Patientinnen und Patienten kontaktiert, aber auch von Angehörigen und von Menschen, die bei ihrer beruflichen Tätigkeit von missbräuchlichem Verhalten erfahren haben. Nicht immer sind die Handlungen, von denen die Menschen berichten, strafbar. Manchmal liegt ein Missverständnis vor: Ein Arzt will Anteilnahme zeigen und nimmt eine Patientin in den Arm, doch diese empfindet das als übergriffig.

Korte warnt: “Hier ist Fingerspitzengefühl gefragt, wenn sich ein Arzt nicht sicher ist, sollte er das lassen.” Oft bietet der Experte an, mit dem jeweiligen Arzt oder der Ärztin Kontakt aufzunehmen; so kann er sich selbst einen Eindruck verschaffen und im Zweifelsfall ein klärendes Gespräch vermitteln.

In anderen Fällen ist es nicht das Verhalten der Ärzte, sondern etwa die Abläufe in Praxen, an denen sich Patienten stören: wenn sie etwa halbnackt aus der Umkleidekabine auf den Behandlungsstuhl steigen sollen. Hier helfen Sensibilität und Aufklärung; so können solche Momente zum Beispiel durch das Angebot von Überwurfblusen vermieden werden.

Inzwischen sind andere Kammern dem Beispiel Hessens gefolgt und haben Ombudsstellen eingerichtet. Die Anzeigen der beiden Frauen bei der Staatsanwaltschaft haben im Übrigen zu einer Hausdurchsuchung bei dem Arzt geführt. Dabei wurden Tausende illegal aufgenommene Bilder von Patientinnen und Patienten sichergestellt.