Im Angesicht mit dem Dalai Lama – Der Dokumentarfilm “Weisheit des Glücks” lässt Kinozuschauer selbst Teil eines Gesprächs mit dem charismatischen geistlichen Führer werden. Doch die Bilderflut überfordert auch.
Jetsun Jamphel Ngawang Lobsang Yeshe Tenzin Gyatso, oder eben: Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, ist zweifelsohne einer der charismatischsten religiösen Führer des 20. und 21. Jahrhunderts. Er erblickte am 6. Juli 1935 im Nordosten Tibets das Licht der Welt und bekam den Namen Lhamo Döndrub. Im Alter von zwei Jahren wurde er als Wiedergeburt seines 1933 verstorbenen Vorgängers erkannt.
Tenzin Gyatso, wie er heute heißt, war keine fünf Jahre alt, als er 1940 in Lhasa als 14. Dalai Lama inthronisiert, fortan gebildet und erzogen wurde. Ziemlich am Anfang von “Weisheit des Glücks” finden sich einige frühe Aufnahmen, die ihn als Kind und Jugendlichen zeigen. Güte und Geduld, sagt er in dem von Barbara Miller und Philip Delaquis gemeinsam verantworteten Film, habe er vor allem von seiner Mutter gelernt: einer einfachen Bauersfrau und Analphabetin.
1950 übertrug man dem damals 15-Jährigen auch die weltliche Herrschaft über Tibet. Über neun Jahre leitete er von Lhasa aus das (politische) Geschick des um seine Unabhängigkeit von China bemühten Tibets. Der Tibetaufstand 1959 aber zwang ihn zur Flucht. Seit damals residiert er im Kloster des Tsuglagkhang-Komplexes im indischen Dharamsala, von wo aus er immer wieder zu Reisen rund um die Welt aufbrach. 2011 ließ er sich von seinen politischen Aufgaben entbinden, um sich fortan ganz seiner Rolle als geistiger Führer zu widmen. Sein Auftritt in “Weisheit des Glücks” dürfte einer der letzten sein, in denen sich der mit dem Friedensnobelpreis Ausgezeichnete mit seiner Lehre vom persönlichen Glück als Sinn des Lebens und seinem Appell um Gelassenheit und Frieden an die Weltöffentlichkeit wendet.
In Angriff genommen haben Miller und Delaquis ihren Film bereits vor einigen Jahren. Noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie haben sie den damals 85-jährigen Dalai Lama in seinen eigenen Räumen interviewt. Die Kamera führte Manuel Bauer, der Tenzin Gyatso seit den 1990er-Jahren als persönlicher Fotograf begleitet. Ab einem späteren Zeitpunkt an “Weisheit des Glücks” ebenfalls mitgewirkt haben der sich zum Buddhismus bekennende Schauspieler Richard Gere und Hollywood-Produzent Oren Moverman.
Das Interview wurde mittels einer speziellen Kameratechnik aufgezeichnet, die Tenzin Gyatso im frontalen Porträt zeigt und seinen Blick von der Leinwand geradeaus in den Zuschauerraum gehen lässt. Barbara Miller, die ihm als Gesprächspartnerin gegenübersaß, ist im Bild nicht zu sehen, ihre Fragen kommen im Film nicht vor. So sitzt man im Kinosaal als Zuschauer dem 14. Dalai Lama sozusagen direkt gegenüber und kann ihm in die Augen schauen. Und wenn man sich auf diesen Film und sein Setting einlässt, fühlt man sich von diesem großen geistigen Führer, der sich in öffentlichen Auftritten seit jeher als charismatisch, mitfühlend und nahbar erweist und manchmal auch unverhofft herzlich-humorvoll zeigt, persönlich angesprochen.
Die bei diesem Interview entstandenen Bild- und Tonaufnahmen bilden Kern und roten Faden von “Weisheit des Glücks”. Weit mehr Platz als die episodenhafte Erzählung des 14. Dalai Lama über seinen eigenen Lebensweg nehmen dabei seine Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage und die Ausführungen zu seiner Lehre der inneren Gelassenheit, einer Haltung des Mitgefühls und der Güte und dem daraus resultierenden Glück ein.
Dabei scheut er nicht davor zurück, auch praktische Anweisungen und Ratschläge zu geben. So findet sich im Film eine Passage, in der er – während auf der Leinwand Einzelporträts von entspannten Menschen mit geschlossenen Augen zu sehen sind – konkrete Anweisungen zum Ein- und Ausatmen gibt. Diese Atmungstechnik ist Grundlage auch für die Meditation, die gemäß dem 14. Dalai Lama kein Verweilen in Gedankenlosigkeit sein soll, sondern ein intensives Nachdenken und Sich-Auseinandersetzen mit der persönlichen Befindlichkeit und Emotionalität. Dies soll schließlich in den Zustand einer Gelassenheit führen, aus der heraus sich das eigene Leben entspannter angehen und sich auch etwas bewirken lässt.
Da die Pandemie 2020 weitere Dreharbeiten mit Tenzin Gyatso verbot, begaben sich Miller, Delaquis und Bauer anderweitig auf Bildersuche. Im fertigen Film paaren sich historische Aufnahmen, Fundstücke aus Archiven und neu Fotografiertes in wilder Reihenfolge. Die Fotos und Filmausschnitte aus Archiven – darunter auch bisher Unveröffentlichtes aus den Archiven der tibetischen Regierung – dienen der Illustration von Tenzin Gyatsos Lebensweg. Sie zeigen ihn vor allem bei öffentlichen Auftritten, auf den Reisen, die er unternommen hat, manchmal auch etwas privater. Es finden sich darunter aber auch Aufnahmen zu historischen Ereignissen, Kriegen und Krisen.
Außerdem gibt es “Stimmungsbilder”, die, rund um die Welt entstanden, den Zustand der Menschheit und ihres Planeten spiegeln. Sie zeigen Impressionen aus Großstädten: Stadtverkehr, Menschenmengen, (Fenster-)Fassaden von riesigen Kauf- und Bürohäusern, Menschen im Fitnesscenter. Sie zeigen auch: Aufnahmen vom Himmel, in Zeitraffer gefilmte Wolkenkonstellationen. Sonnenuntergänge, den Mond am Nachthimmel. Seen- und Flusslandschaften, Hochplateaus, Berge, Gebirgszüge, Wüsten. Das Glitzern des Lichtes auf dem Meer. Das zerstörte Damaskus, das heutige Dharamsala mit dem Tsuglagkhang-Komplex. Menschen, die in Pipilotti Rists zur Meditation einladender Rauminstallation “Pixelwald” verweilen.
Sonne, Mond und Planeten, sagt Tenzin Gyatso in “Weisheit des Glücks”, sähen am Himmel wunderschön aus, doch die Heimat der Menschen sei die Erde, und der gelte es Sorge zu tragen. An einer anderen Stelle, in der Stress, Aggression und deren Beherrschung thematisiert werden, erwähnt er nebenbei, dass seine Reinkarnation vorstellbar auch weiblich sein könnte. Es sind solche markanten Ideen und Gedanken, die aus dem Gros der im Film wiederholt formulierten und vorgetragenen Lehre des 14. Dalai Lama herausragen und haften bleiben.
Es sind auch einzelne Bilder, die sich aus der überbordenden Bilderflut dieses Films in die Erinnerung brennen. Eines dürfte besonders lange haften bleiben. Es ist das des 85-jährigen Dalai Lama, der mit wachem und gütigem Blick jedem Menschen, der diesen Film anschaut, direkt in die Augen blickt.