„Kuckuck“, ruft Elke Cernysev und stoppt den Chor mit einer energischen Armbewegung. „Bässe, ihr müsst da aufs G springen – eine Terz, wie bei ,Kuckuck‘.“ Sie schlägt einige Töne auf dem Klavier an. „Noch einmal bitte.“
Die rund 80 Sängerinnen und Sänger setzen erneut ein, hier und da noch vorsichtig, tastend. Statt auf den Taktschlag der Dirigentin schauen die meisten konzentriert in ihre Noten – zu ungewohnt ist es noch, wenn die Töne sich scharf aneinander reiben und das, was sonst falsch klingt, auf einmal richtig sein soll. Bleistiftnotizen und farbige Markierungen in den Heften zeugen von intensiver Arbeit.
„Wir sind gut erzogen“, meint der Sänger
Das Stück, das der Chor im Gemeindehaus der Altstadtgemeinde in Recklinghausen gerade probt, ist noch nie zuvor erklungen. Es ist so neu, dass noch nicht einmal alle Noten gedruckt sind. Zugrunde liegt ihm das Projekt „Musikalische Dialoge 2017“der Evangelischen Kirche von Westfalen: Zum Reformationsjubiläum soll sechs Kantaten von Johann Sebastian Bach jeweils ein zeitgenössisches Werk gegenübergestellt werden. Das Werk, dessen Uraufführung Elke Cernysev vorbereitet, stammt von der Komponistin Charlotte Seither. Es heißt „Inschrift“ und bezieht sich auf die Kantate „Christ lag in Todesbanden“.
„Moderne Musik“ also im wahrsten Sinne des Wortes. Für Kirchenmusikdirektorin Elke Cernysev ganz vertraut: Als Tochter des Organisten und Komponisten Wolfgang Stockmeier wuchs sie damit auf. Auch ihren Chören in Herten und Recklinghausen, die beide an dem Projekt beteiligt sind, hat sie diese Form der Musik nahegebracht.
Und die Sängerinnen und Sänger? „Ach, wir sind von unserer Kantorin gut erzogen“, sagt Rüdiger Korte aus dem Bass mit einem Augenzwinkern. „ Sie hat das voll im Griff. Und je länger wir proben, desto mehr schwinden die Bedenken.“ Martina Czylwik, die Alt singt, empfindet die Spannungen und Dissonanzen der Musik als Herausforderung. Der neue Zugang zu dem alten Choral gefällt ihr: „Das funktioniert mehr über den Klang und die Stimmung als über den Text.“ Überhaupt, meint Jelena Cernysev aus dem Sopran: „Man kann unheimlich viel entdecken, wenn man sich auf das Ungewohnte einlässt.“
Wie geht das eigentlich – komponieren?
Aufgefallen ist allen dreien, dass das Osterlied in der modernen Komposition sehr viel fragender und zerbrechlicher zu Worte kommt als in der Bach-Kantate. „Es ist, als ob sich aus der bedrückenden Welt der Osterjubel erst langsam hervorarbeiten müsste“, formuliert Jelena Cernysev. Auch der Schlusschoral, den Elke Cerniysev jetzt mit dem Chor probt, hat nicht die bekenntnishafte Überzeugung, die Bach ihm gab. Er wird immer wieder unterbrochen von Bittrufen einzelner Sänger, und selbst das letzte „Halleluja“ klingt eher zögernd als jubelnd.
„Ja, das ist meine Haltung“, sagt die Komponistin Charlotte Seither. „Ich sehe den gläubigen Menschen immer als fragenden, auch unsicheren Menschen. Eine demonstrative Glaubensüberzeugung ist mir eher fremd.“ In dem alternativen Szene-Café in Berlin, in dem das Gespräch stattfindet, wirkt die 52-Jährige fast fehl am Platz in ihrem grauen Kostüm mit dem akkurat eingesteckten Seidentuch – eher seriöse Geschäftsfrau als Schöpferin eigenwilliger zeitgenössischer Musik.
Aber das ist ihr Beruf seit vielen Jahren: Komponistin; außerdem Dozentin, unter anderem an der Hochschule für Kirchenmusik in Herford. Ihren Beitrag zu dem Dialog-Projekt versteht sie als eine Art aktuellen Kommentar zu der Bach-Kantate: ein vorsichtiges Bekenntnis zur Erlösung, bei aller Unerlöstheit der Welt.
Wie komponiert man so ein Werk? „Da hat jeder seinen eigenen Weg“, sagt die Komponistin. „Ich brauche zunächst eine Zeit, in der ich mich innerlich mit dem Klangraum beschäftige. Dann notiere ich mir meine Einfälle, egal, wo – das kann zuhause sein oder in der U-Bahn.“ Sie holt eine große Mappe hervor und zeigt ein buntes Sammelsurium: kleine Notizzettel mit einigen Wörtern und einzelnen zackig skizzierten Noten; größere Zettel, mit Bleistift und Buntstiften beschrieben; schließlich Notenpapier, auf dem in den übereinanderliegenden Systemen verschiedene Stimmen notiert sind. Manche reißen nach wenigen Takten ab – Ideen, die Seither als untauglich verworfen hat. Andere ziehen sich über mehrere Seiten. An einigen Stellen ist das Papier grau vom Radieren; überall sind farbige Korrekturen eingetragen.
Drei Monate sammeln, drei Monate ordnen
Etwa drei Monate lang hat die Komponistin auf diese Weise ihre Einfälle gesammelt. Noch einmal drei Monate brauchte sie, um das Material zu ordnen und in ein musikalisches System zu bringen. Viel für ein Werk, das letztlich 17 Minuten dauert. Dabei hilft es ihr, die einzelnen Notenblätter auf dem Boden ihres Arbeitszimmers auszulegen, um dem Verlauf der Komposition zu folgen.
Charlotte Seither schreibt ihre Werke komplett von Hand. Ganz bewusst verzichtet sie auf Klavier oder Computer. „Ich brauche die Freiheit des Klangraums. Ein vorgegebenes System würde mich zu sehr einschränken.“ Ohnehin ist es nicht immer möglich, das, was sie sich vorstellt, in die musikalische Realität umzusetzen. Das Problem: „Ich höre in meinem Kopf einen Gesamtklang, zu dem etwa eine Trompete gehört. Oder ein Knabensopran“, beschreibt Seither. „Nun weiß ich aber: Ich habe für dieses Werk weder Trompete noch Knabenchor. Also muss ich versuchen, mit dem, was da ist, meiner ursprünglichen Vorstellung so nah wie möglich zu kommen.“
Diese Umsetzung in die Realität der musikalischen Möglichkeiten gelingt mal besser, mal schlechter. Bei dem Stück „Inschrift“ etwa hat Seither dem ersten Chorsatz viel Aufmerksamkeit gewidmet. Aus „Geräuschmaterial“, wie sie es nennt, sollen sich allmählich die Worte des Chorals entwickeln; die Chorsänger sollen aus dem unbestimmten Klang heraus als einzelne Personen, als Erlöste erkennbar werden. Dieser Satz wird jedoch bei der Uraufführung nicht musiziert. „Zu schwer“, erklärt Kantorin Elke Cernysev in Recklinghausen. „Dafür hätte ich mehrere Proben mit den professionellen Instrumentalisten gebraucht. Das kann ich schlicht nicht bezahlen.“
Charlotte Seither hat dafür Verständnis. „Ich habe hier den Rahmen gesprengt, der für eine Kirchengemeinde möglich ist“, gibt sie zu. Vielleicht findet sich später an anderer Stelle die Gelegenheit, das gesamte Stück aufzuführen. „Für mich ist wichtig, dass es existiert“, sagt die Komponistin.
Elke Cernysev freut sich auf die Uraufführung. „Ich bin unheimlich gespannt, wie alles zusammen klingt, wenn auch die Instrumente dazukommen.“ Bei dem Konzert wird zuerst die Bach-Kantate musiziert, dann das Werk „Inschriften“ von Charlotte Seither. Geplant ist eine Einführung durch die Komponistin selbst.
– Die Uraufführung findet am 30. April um 17 Uhr in der Erlöserkirche in Herten statt.