Frau Grote, was ist Missbrauch?
Bettina R. Grote: Es gibt unterschiedliche Formen von Missbrauch: körperlicher, sexueller, emotionaler und/oder psychischer Missbrauch. Gemeinsames Merkmal ist die Ausnutzung einer Macht- oder Autoritätsposition durch den Täter oder die Täterin. Die persönlichen Grenzen des Gegenübers werden dabei überschritten. Die Werte, Bedürfnisse und die Integrität des Anderen werden missachtet. Mit Missbrauch gehen Drohungen und die Forderung nach Geheimhaltung einher. Missbrauch kann auch sehr perfide, schwer durchschaubare Formen annehmen.
Warum ist das so?
Psychischer Missbrauch beispielswiese ist sehr perfide, weil dabei die Selbstwahrnehmung des anderen ständig infrage gestellt wird. Äußerungen wie „Das bildest du dir nur ein. So war das nicht. Das habe ich dir doch gesagt, hast du das vergessen?“ führen dazu, dass die betroffene Person den Glauben an sich selbst, den eigenen inneren Kompass verliert. „Gaslighting“ nennen wir diese Form von Manipulation. Auch Betroffene von sexuellem Missbrauch berichten diese Verdrehungen und Wirklichkeitsverzerrungen, wenn ihnen gesagt wurde „Du wolltest das doch auch.“

Welche Folgen hat Missbrauch?
Dass sich ein anderer meiner bemächtigt, über Gewalt, über sexuelle Handlungen oder ähnliches hat immense psychische Auswirkungen, wobei Menschen sehr unterschiedlich reagieren. Oft sind Schock und Erstarrung eine Folge, auch Überforderung und ein Gefühl von Ohnmacht. Das Nervensystem ist auf Alarm gestellt. Manche verstummen, ziehen sich zurück, sie halten aus, schweigen. Andere zeigen sich eher aggressiv, abweisend oder latent misstrauisch. Das hat auch soziale Folgen. Ein sehr tragischer Effekt ist, dass die Betroffenen sich oft selbst schuldig fühlen für das Erlittene. Das eigene Erleben ist sehr in Unordnung geraten. Missbrauch bleibt oft verborgen im Inneren.
Warum ekelt uns Missbrauch an?
Der Ekel ist ein Schutz- oder Abwehrmechanismus. Moralischer Ekel zeigt uns letztendlich unsere Werte und weist darauf hin, dass diese aus unserer Sicht auf abstoßende Weise missachtet wurden. Bei Missbrauch von Kindern erleben wir das besonders. Sie werden normalerweise als schutzbedürftig, empfindsam, wehrlos – körperlich wie seelisch – wahrgenommen. Ihnen etwas anzutun, weckt starke Gefühle. Aus meiner Sicht wehren wir mit dem Gefühl des Ekels die Monstrosität der Tat ab, „wie kann man das einem Kind antun, damit will ich nichts zu tun haben“.
Irgendwie empfinden wir Missbrauch im kirchlichen Kontext besonders schlimm. Warum?
Kirche stellt sich selbst als Moralinstanz dar. Sie vertritt hohe Ansprüche und Werte. Menschen sollen glauben und vertrauen. Die Gemeinde, die Christenheit als Familie, Brüder und Schwestern, die heilige Familie. All das suggeriert Sicherheit. Die Kirche als heiliger Ort, der vor der „bösen Welt“ schützt. Eltern vertrauen ihre Kinder in der Annahme an, dass sie dort sicher und gut aufgehoben sind. Wenn es dann genau dort Missbrauch gibt, Unheiliges passiert, dann tut sich ein abgrundtiefer Spalt auf. Es ist nicht nachvollziehbar, dass es dort passiert. Nicht mal in der Kirche ist man geschützt. Je größer der Anspruch und das entgegengebrachte Vertrauen, umso höher die Fallhöhe und der Schock.
Was macht das mit dem Vertrauen in die Kirche?
Die Kirche – vor allem die katholische, aber auch die evangelische – hat viel Vertrauen verspielt. Die Menschen sind heute viel skeptischer. Ich denke, das hat viel mit den Fällen von sexuellem und emotionalem Missbrauch wie auch mit dem Machtmissbrauch zu tun.
Wie meinen Sie das?
Die Vertuschung. Man fragt sich, wie es möglich ist, dass in Kirchenkreisen Akten verschwinden, dass Täter gedeckt werden. Die Vertuschung passt nicht zur Lehre der Kirche. Das Nichtverfolgen von Tätern oder Meldungen von Missbrauch ist mir vollkommen unverständlich. Es potenziert den Schaden für die Betroffenen. Die Missbrauchsfälle werden als Einzelfälle dargestellt, aber es ist ein Problem des Systems Kirche, nicht eine Einzelfallproblematik. Die Vertuschung zeigt für mich auch eine Führungskrise. Als Führungskraft habe ich eine hohe Verantwortung und sollte ein hohes Bewusstsein für die Auswirkungen meiner Handlungen haben. Das Leid, nicht gehört zu werden, angezweifelt zu werden, ist eh sehr groß bei den Betroffenen. Es gilt da die Faustregel, „eine Betroffene muss sich sechs Personen anvertrauen, bevor der/die Siebte ihr glaubt“.
Was muss sich ändern?
Das System Kirche muss grundlegende Strukturen ändern, Seilschaften auflösen, auch die Sprache muss anders werden. Aus Unheil muss Heiles entstehen und nicht noch mehr Unheil. Die Kirchen sprechen viel von Wahrheit. Dann sollte sie suchen und finden. Grundlegend fehlt es aus meiner Sicht an Reue, eine tiefe Erschütterung, die dazu führt, dass man etwas grundlegend ändert. Zu viele Lippenbekenntnisse, die für mich nicht erkennen lassen, dass man versteht, wie weitreichend das Leid ist, das zum Beispiel durch sexuellen Missbrauch entsteht. Ebenso dürfte kein Stein mehr auf dem anderen stehen nach Bekanntwerden von Machtmissbrauch. Wie konnte es dazu kommen, welche Strukturen und Menschen haben das ermöglicht?
Bettina R. Grote ist systemische Lehrtherapeutin und Lehrsupervisorin. Sie arbeitet mit Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, und als Supervisorin in Einrichtungen, in denen es Missbrauchsfälle gegeben hat.