70 Jahre nach einem Treffen führender Theologen und Atomphysiker in Wiesbaden haben Kirchenvertreter und Naturwissenschaftler am Mittwoch erneut vor den Gefahren eines Atomkrieges gewarnt. In einer gemeinsamen Erklärung erteilten der hessen-nassauische Kirchenpräsident Volker Jung, der Umweltwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker und der Mitbegründer der Ärztevereinigung zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW), Ulrich Gottstein, die aktuelle Präsidentin von IPPNW Europa, Angelika Claußen und der Vorsitzende der Martin-Niemöller-Stiftung, Michael Karg, Diskussionen um eine atomare Aufrüstung Europas eine Absage. In ihrem mit „Wiesbadener Erinnerung“ überschriebenen Papier fordern sie die Ächtung von Atomwaffen, einen Beitritt der Bundesrepublik zum Atomwaffenverbotsvertrag und eine Wiederaufnahme von Abrüstungsverhandlungen.
Auch die sogenannte nukleare Teilhabe – die Stationierung amerikanischer Atombomben auf deutschem Territorium, von wo aus deutsche Soldaten sie im Kriegsfall über feindlichem Gebiet abwerfen müssten, soll nach dem Willen der Unterzeichner beendet werden. Die Bundesrepublik solle sich stattdessen für eine gesamteuropäische atomwaffenfreie Zone unter Einschluss von Russland einsetzen.
Schon in den 1950er Jahren sei sowohl Kirchenvertretern als auch Physikern klar gewesen, dass Atombomben keine Waffen wie andere auch seien, sagte Jung: „Diese Bomben können das Leben selbst vernichten.“ Bereits Martin Niemöller, der erste Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, habe erkannt, dass diese Art von Waffen in fundamentalem Gegensatz zur biblischen Lehre stünden. IPPNW-Präsidentin Claußen sagte mit Blick auf die Vielzahl von Stellvertreterkriegen in aller Welt, die Behauptung, Atombomben hätten in den vergangenen Jahrzehnten den Weltfrieden gesichert, seien nachweislich falsch.
Niemöller hatte kurz nach einem US-amerikanischen Wasserstoffbombentest auf dem Bikini-Atoll vom Frühjahr 1954 gemeinsam mit dem damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Otto Dibelius, und dem Theologen Helmut Gollwitzer einen Physiker-Kongress in Wiesbaden zum Anlass genommen, um mit Wissenschaftlern den Austausch über Atomwaffen zu suchen. Das Gespräch mit den führenden Kernphysikern Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker in der hessischen Landeshauptstadt gilt als einer der Auslöser für eine kraftvolle Anti-Atomwaffen-Bewegung in der jungen Bundesrepublik. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) hatte die Anschaffung deutscher Atomwaffen prüfen lassen und taktische Atombomben als „Weiterentwicklung der Artillerie“ verharmlost.