Ihre Strahlkraft ist ungebrochen: Auch 80 Jahre nach ihrer Enthauptung im Strafgefängnis München-Stadelheim am 22. Februar 1943 sind die Geschwister Hans und Sophie Scholl im kollektiven Gedächtnis verankert als Leuchttürme in Sachen Standfestigkeit, Mut und Widerstand. Ihre Jugend – Hans war 24, Sophie 21 Jahre alt – und die Brutalität des NS-Regimes, das innerhalb von vier Tagen die Todesurteile verhängte und vollstreckte, machte sie schon ab 1946 zur idealen Projektionsfläche des Gedenkens an die studentische Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Die anderen Mitglieder wie der ebenfalls am 22. Februar 1943 ermordete Christoph Probst sind bis heute weniger bekannt.
Vor allem Sophie wurde über die Jahrzehnte zur Ikone, durch eine Vielzahl von Biografien, durch Filme und Social Media Projekte. Nach 80 Jahren Erinnerungsarbeit liegt der Schluss nahe, dass über die Geschichte der Scholls alles gesagt sein müsste.
Geschwister Scholl: Kalusche räumt mit manchen Legenden auf
Ist es aber nicht. Seit Mai 2021 trägt Martin Kalusche alle Originalquellen zur „Weißen Rose“, die er in Archiven und Nachlässen aufspüren kann, in einer Online-Datenbank zusammen – chronologisch sortiert für jeden Tag vom 1. Januar bis zum 31. Oktober des Schicksalsjahrs 1943. Zehn Jahre hat der promovierte Theologe und Hamburger Psychotherapeut, der das private Mammutprojekt nebenberuflich beackert, dafür veranschlagt. Doch schon jetzt räumt Kalusche mit manchen Legenden auf: „Die berühmte letzte Zigarette vor der Hinrichtung“, ist er sich sicher, „hat es nie gegeben.“ Nichts in den minutengenauen Hinrichtungsprotokollen rund um die letzte Stunde der Geschwister und ihres Freunds Christoph Probst deute auf so eine unerwartet freundliche Geste der NS-Schergen hin.
Eines seiner wertvollsten Fundstücke sind zwei Fotos der aus Ulm stammenden Geschwister, die mit einem Artikel der Süddeutschen Zeitung am 22. Februar 1953 abgedruckt wurden. Bislang galten die Gestapo-Fotos nach der Festnahme am 18. Februar 1943 als letzte Bilder von Hans und Sophie. Doch die gefundenen Fotos seien nachweislich später entstanden – vermutlich bei der Ankunft im Gefängnis Stadelheim. Sie zeigen zwei erschöpfte junge Menschen mit müdem Blick und Augenringen, erschöpft nach stundenlangen Verhören. Keine drei Stunden später waren Hans und Sophie tot.
Mit zwei weiteren Klischees der Erinnerungsarbeit beschäftigte sich der Münchner Historiker Hans Günter Hockerts bereits in seinem Aufsatz „Todesmut und Lebenswille“ aus dem Juli 2022. Die Geschwister hätten „weder den Opfertod gesucht noch aus purem Leichtsinn gehandelt“, schreibt der emeritierte Professor für Zeitgeschichte darin. Stattdessen hätten Hans und Sophie vor ihrer Flugblattaktion am 18. Februar in der Ludwig-Maximilians-Universität – die zu ihrer Verhaftung führte – einen Notfallplan und eine gemeinsame Deckgeschichte vereinbart: „Sie dachten, sie könnten die Situation beherrschen.“
Flugblatt-Aktion der Geschwister Scholl war nicht überhastet
Hockerts untermauert das mit einem nach seinen Angaben bislang unbeachteten Detail: Ihre Bewacher hätten die beiden unmittelbar nach der Festnahme getrennt – Zeit für spontane Absprachen sei da nicht gewesen. Für dieses Detail hat Hockerts alte Lagepläne des im Krieg teilzerstörten Universitätsgebäudes rekonstruiert sowie den genauen zeitlichen Ablauf vom Abwurf der Flugblätter in den Lichthof der Universität bis zum Eintreffen der Gestapo.
Auch eine andere gängige Erzählung haben die Forscher hinterfragt. So habe ein Ulmer Mittelsmann die Familie Scholl vor einer bevorstehenden Enttarnung Sophies durch die Gestapo gewarnt. Viele Spekulationen rankten sich um die Frage, ob Inge Scholl diese Warnung telefonisch weitergegeben oder ihren damals in München weilenden Freund Otl Aicher beauftragt hatte, die Warnung weiterzugeben.
Als Aichers Tagebücher im Februar 2021 freigegeben wurden, erstellten Hockerts und Kalusche ein „Bewegungsprofil“: Wo und wie hatte Otl Aicher den 17. und 18. Februar verbracht, welche Züge fuhren zwischen seinem Wohnort Solln und München? Die Forscher wälzten dafür sogar das Kursbuch der Reichsbahn – und kamen zu dem Ergebnis, dass es keine telefonische oder persönliche Warnung gegeben haben kann. „Die Flugblatt-Aktion der Geschwister Scholl war also nicht überhastet, sondern lag voll in ihrem Handlungsplan“, folgert Hockerts.
„Weiße Rose“: Komplexität der Geschichte offenlegen
So nachvollziehbar es sei, dass Biografen und Filmemacher Forschungslücken mit Interpretationen und künstlerischer Freiheit gefüllt haben: Legitim ist es für Martin Kalusche nicht. „Wir müssen die Komplexität der Geschichte offenlegen“, findet er, sonst drohe im Zweifelsfall „ein Glaubwürdigkeitsverlust auf ganzer Linie“. Transparenz ist deshalb das Ziel seiner Datensammlung zur „Weißen Rose“: „Ich möchte, dass alle im Internet anhand der Originalquellen nachprüfen können, was in Literatur und Film über die Weiße Rose berichtet wird“, sagt der 62-Jährige.
Auch der Münchner Geschichtsprofessor Hans Günter Hockerts wirkt an der kritisch kommentierten Quellensammlung mit: „So entsteht ein Wissensspeicher, der für vielfältige Fragestellungen offen ist und hilft, gesichertes Wissen von Mythen und Legenden zu unterscheiden.“ Schließlich sei Geschichte niemals „ausgeforscht“. Jede Zeit habe ihr eigenes Interesse an Geschichte. „Neue Fragen werden an alte Themen gestellt“, erklärt Hockerts. Sogar an eine so bekannte Geschichte wie die der Geschwister Scholl.