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Tag der Introvertiertheit macht auf ruhigere Menschen aufmerksam

Einem Vortrag folgen, eine lange Prüfung schreiben, eine komplizierte Systemlösung ausarbeiten. Alles kein Problem? Dann sind Sie wohl eher introvertiert – und genießen nach den hektischen Feiertagen das Alleinsein.

Man kennt sie: Sie verbarrikadieren sich tagelang mit dem Computer, tüfteln versonnen an einem komplexen Problem und krümeln dabei bestellte Pizza auf die Tastatur. “Dieses Bild eines Nerds ist eine sehr klischeehafte Vorstellung von Introvertiertheit”, sagt Sylvia Löhken, Sprachwissenschaftlerin und Expertin für intro- und extrovertierte Kommunikation. “Introvertierte Menschen sind keineswegs alle Computerfreaks, seltsame Eigenbrötler oder verschüchterte Häschen.” Es sind eher stille Personen, die sich gerne an einen ruhigen Ort zurückziehen und deshalb in der lauten Welt selten auffallen, so die Persönlichkeitspsychologin.

Schon vor rund hundert Jahren nahm der Psychoanalytiker C. G. Jung eine Einteilung in Introversions- und Extraversionstypen vor. Bei ersteren ist das Leben durch ihre innere Gefühlswelt bestimmt, bei zweiteren durch all die Einflüsse, die von außen auf sie einwirken.

Für Löhken ist diese Unterscheidung vor allem eine Frage der Energie: “Introvertierte wachen morgens auf und haben ordentlich Guthaben auf ihrem Energiekonto. Wenn sie den Tag mit anderen Menschen verbringen, ist das Konto abends leergeräumt und sie müssen ihren Akku in der Stille wieder aufladen.” Extrovertierte hingegen würden erst durch Aktivitäten und Kontakte Energie sammeln und durch die Stimulation abends zur Höchstform auflaufen. So sei auch erklärbar, warum sich die einen nach einer langen Veranstaltung schnellstmöglich zurückziehen, während die anderen unbedingt noch etwas trinken gehen wollen.

Das Model Claudia Schiffer, der TV-Moderator Günter Jauch, die Ordensfrau und Nobelpreisträgerin Mutter Teresa – viele erfolgreiche, mächtige und interessante Persönlichkeiten zählen zu den Introvertierten. Die Liste an berühmten “Intros” beweist, dass diese mit ihrer zurückhaltenden Art durchaus in der Lage sind, öffentlichkeitswirksam auftreten.

Da es ihnen aber eher schwerfällt, spontan vor Publikum zu sprechen, rät Löhken ihnen, sich stets gut auf solche Auftritte vorzubereiten und in Meetings darauf zu achten, dass ihnen durch eine Moderation ausreichend Redezeit zugewiesen wird. Solchermaßen unterstützt würden sie meist Kompetenz und Ruhe ausstrahlen und sehr vertrauenserweckend wirken. Die Ruhe sei auch ein Markenzeichen von Angela Merkel der Fall gewesen, die als introvertierte Bundeskanzlerin sechzehn Jahre lang an der Spitze Deutschlands stand – und offenbar das Vertrauen vieler Menschen hatte.

Punkten können introvertierte Menschen überdies als gute Zuhörer und beim analytischen Denken. Wie sich mittels Hirnscans belegen lässt, sind bei ihnen jene Gehirnareale besonders gut durchblutet, die fürs Analysieren, Strukturieren und Problemlösen zuständig sind. “In introvertierten Menschen denkt es quasi ständig”, sagt die Persönlichkeitsexpertin. Sie würden deshalb auch versteckte Risiken erkennen und wichtige Projekte sehr gezielt planen.

Aufgrund ihrer ausgeprägten Neigung zum Tüfteln und Kalkulieren gebe es wahrscheinlich mehr introvertierte Nobelpreisträger, Buchhalter oder Schriftsteller, schätzt die Expertin. Prinzipiell hält sie allerdings wenig davon, die leisen Zeitgenossen in bestimmte Nischen zu drängen. Vielmehr sei in Unternehmen eine gesunde Mischung aus extro- und introvertierten Mitarbeitern gefragt, die sich auf ähnliche Weise beim Kundenstamm wiederfinde: Die jeweiligen Stärken ergänzen sich.

Nicht zufällig fällt der internationale Tag der Introvertiertheit auf den 2. Januar: einen Tag, an dem alle Ruhebedürftigen nach längerer Zeit im Kreis der Familie wieder das Alleinsein genießen können. Seit er 2012 ins Leben gerufen wurde, haben Fachleute verstärkt auf die Eigenheiten und Bedürfnisse ruhiger Menschen aufmerksam gemacht – das Klischee des kontaktscheuen Nerds hat inzwischen ausgedient.

Dennoch könne der Gedenktag, so Löhken, alle Introvertierten ermutigen, im Umgang mit anderen zu ihrer – teils angeborenen, teils erlernten – Eigenart zu stehen und entsprechend zu leben. “Die Fähigkeit, positive Kontakte zu anderen aufzubauen, beruht auf Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Respekt oder Mitgefühl und diese haben Menschen ohnehin ganz unabhängig davon, ob sie extro- oder introvertiert sind”, sagt die Expertin.