49 Täter, 199 Opfer: Eine neue Studie zeigt das Ausmaß von sexualisierter Gewalt und Missbrauch durch Kirchenmitarbeiter in den 1980er und 1990er Jahren. Kirche und Schulbehörden stehen in der Kritik.
Erstmals ist der Umfang sexuellen Missbrauchs im Bistum Trier während der Amtszeit von Bischof Hermann Josef Spital umfassend wissenschaftlich untersucht worden. Demnach gab es zwischen 1981 und 2001 mindestens 199 Betroffene, wie es in einer am Mittwoch in Trier vorgestellten Studie heißt. Die Studie zählt 49 Beschuldigte und mutmaßliche Täter. Bis auf fünf Personen waren alle Missbrauchsbetroffene minderjährig.
Die Wissenschaftler der Trierer Universität sprechen von einem Hellfeld – und vermuten, dass die tatsächlichen Zahlen höher sind. Bei den Recherchen stießen die Studienautoren Lutz Raphael, Lena Haase und Alisa Alic auch auf drei Personen, die sich in zeitlicher Nähe zur erlittenen sexualisierten Gewalt selbst das Leben nahmen. Die genauen Umstände könnten zwar nicht mehr aufgeklärt werden, doch diese Fälle zeigten, “welche tiefgreifenden seelischen Nöte und psychischen Schädigungen durch den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen entstehen konnten”.
Kritik formuliert die Studie an der Bistumsleitung: “Während für die Aufklärung intern Sorge getragen wurde, so wurde die moralische Pflicht zu Anzeige und Information staatlicher Stellen vollständig vernachlässigt.” Zwar sei über eine unabhängige Kommission zur Prüfung der Vorwürfe gesprochen, diese aber nie eingerichtet worden. Laut Studie waren der damaligen Bistumsleitung 20 Beschuldigte bekannt. 29 weitere Beschuldigte seien ab 2010 gemeldet worden.
“Spital stellte sich der Aufgabe, Anzeigen sexuellen Missbrauchs nachzugehen, seine Lösungen waren getragen von pastoralem Vertrauen, aber völlig unangemessen angesichts des hohen Rückfallrisikos gerade von Intensivtätern”, kritisieren die Forscher. So sei etwa kein einziges kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet worden. “Man beließ es – wenn diese erfolgten – bei den staatlicherseits verhängten Strafen”, schreiben die Studienautoren. In den 20 Jahren habe es nur drei Verurteilungen gegeben. Die Täter erhielten jeweils zwei Jahre auf Bewährung für zwischen 25 und 41 Taten.
“Bischof Spital ging persönlich neue Wege pastoraler Verantwortung, als er Gespräche mit Eltern betroffener Minderjähriger führte, sich um die Belange Betroffener kümmerte”, heißt es in dem Bericht. Er war laut Studie mit mindestens 13 Fällen selbst befasst.
Es lasse sich für Bischof Spital keine aktive Vertuschung von einzelnen Fällen des sexuellen Missbrauchs feststellen. Allerdings sei unter seiner Leitung fahrlässig gehandelt worden, wenn weitere Kinder und Jugendliche den bekannten Tätern ausgesetzt worden seien.
Kritisiert werden auch staatliche Behörden in Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Die juristische Ahndung sei in Trier und Saarbrücken von Milde geprägt gewesen. Bei Ministerien und Schulbehörden habe die Kenntnis über sexuelle Übergriffe keineswegs immer zur Anzeige bei der Polizei geführt. “Vielmehr überwog die Hoffnung auf einen geräuschlosen Ablauf und ein Versanden der Angelegenheit ohne Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden”, führen die Autoren aus.
Das wissenschaftliche Team hat auch die vorübergehende Bistumsleitung durch Weihbischof Leo Schwarz (2001-2002) untersucht; er war demnach in mindestens neun Fällen involviert. “Insgesamt vermitteln alle von uns herangezogenen Quellen den Eindruck, dass er das Thema sexueller Missbrauch und vor allem dessen Ausmaß und Folgen unterschätzte”, so die Forscher und vermuten, dass persönliche Bindungen Schwarz beeinflussten.
Grundlage der Studie mit rund 80 Seiten waren mehr als 1.000 kirchliche Personalakten sowie 20 Gespräche mit Betroffenen und Zeitzeugen. Mit 77,3 Prozent seien die Betroffenen männlich, zu 21,6 Prozent weiblich gewesen. In zwei Fällen wurde demnach nicht klar, ob die missbrauchte Person männlich oder weiblich war. Neben dem Missbrauch habe es auch zwei Fälle körperlicher Gewalt gegeben.
Die Studie ist Teil des Projekts: “Sexueller Missbrauch von Minderjährigen sowie hilfs- und schutzbedürftigen erwachsenen Personen durch Kleriker/Laien im Zeitraum von 1946 bis 2021 im Verantwortungsbereich der Diözese Trier: eine historische Untersuchung”. Auch die Amtszeiten der Bischöfe Reinhard Marx (2002-2008) und Stephan Ackermann (seit 2009) sollen untersucht werden. Für den gesamten Untersuchungszeitraum zählen die Forscher bislang 234 Beschuldigte.