Seit 19 Jahren organisiert Pfarrer Björn Mensing in der evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau Zeitzeugengespräche, Gedenkveranstaltungen, Erinnerungsarbeit für die Opfer des NS-Regimes und ihre Angehörigen. Doch auch die eigene Familiengeschichte hat den Historiker vor ein paar Jahren umgetrieben. Auf dem Glastisch im Gesprächsraum stapeln sich Papiere und Fotos. Mensing nimmt ein Schwarz-Weiß-Foto zur Hand: „Das ist mein Großvater“, sagt er. Die Fotografie zeigt einen Mann in Uniform, auf den Knöpfen prangt der Reichsadler, auf der Schirmmütze das Hakenkreuz. Von 1942 bis 1945 leitete Konrad Mensing als Amtskommissar die Stadtverwaltung von Exin (polnisch: Kcynia) im von Nazi-Deutschland besetzten Gau „Wartheland“, der die Region Poznan umfasste.
Dieser Teil der Familiengeschichte, die Mensing als Praxisbeispiel beim Workshop „Nazis in der eigenen Familie?“ am 12. Oktober vorstellt, war ihm schon lange bekannt. Mit seinem Vater Friedrich hatte er schon vor Jahren Gespräche über dessen Kindheit im „Warthegau“ geführt, über den Drill im Internat der deutschen „Heimoberschule“, über seine Rettung aus dem zugefrorenen Weiher von Exin. „Ein polnischer Arbeiter hat meinem Vater das Leben gerettet“, sagt Mensing mit kratziger Stimme, „sonst wäre er ertrunken“.
Doch erst spät begab sich Mensing auf Spurensuche, um die Biografie seines Großvaters aufzuarbeiten. Berufliche Pflichten, Familie, wenig Freizeit – warum es so lange gedauert habe, könne er nicht genau sagen, erklärt Mensing nachdenklich. Den Anstoß habe der junge Historiker Jan Kwiatkowski gegeben, der als Freiwilliger in Dachau gearbeitet hatte: „Er bot an, mir bei der Suche als Dolmetscher zu helfen.“
Aus Dokumenten, Briefen und Gesprächen rekonstruierte der Historiker die Lebensgeschichte von Konrad Mensing. 1892 geboren, kämpfte er als Soldat im Ersten Weltkrieg an verschiedenen Fronten. Danach schlug er die Verwaltungslaufbahn ein. Von 1927 bis 1933 war er Gemeindevorsteher in Laatzen bei Hannover. Seine SPD-Mitgliedschaft kostete den im Nazi-Jargon „politisch unzuverlässigen“ Beamten 1933 den Job.
Auf zwei Jahre Arbeitslosigkeit folgte von 1935 bis 1940 ein Angestelltenverhältnis bei der Lüneburger Heeresstandortverwaltung. 1937 trat Mensing in die NSDAP ein – zwar unter Druck, „aber er hat sich auch nicht widersetzt“, sagt sein Enkel. 1940 wurde Konrad Mensing ins besetzte Polen geschickt.
Nach einer ersten Station als Kämmerer wurde Mensing 1942 zum Amtskommissar von Exin und damit automatisch zum NSDAP-Ortsgruppenleiter. Belegt sei, dass er den Beschluss umgesetzt habe, aus der katholischen Pfarrkirche eine Weihehalle zu machen. Im September 1942 sei dort die „Woche der befreiten Heimat“ gefeiert worden. „Er hat diese Woche organisiert. Dass die mit dem Versailler Vertrag abgetrennten Gebiete wieder deutsch wurden, fanden damals viele gut, auch mein Großvater“, sagt Björn Mensing.
Trotz gründlicher Recherche habe er jedoch keinen Hinweis finden können, dass sein Großvater an NS-Verbrechen beteiligt gewesen sei, sagt der Historiker. Der wichtigste Beleg sei für ihn ein Dokument vom Februar 1942, in dem der Kreisleiter seinen Großvater Mensing für das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse vorschlug – nicht für Verdienste im Sinne der NS-Ideologie, sondern für gute Verwaltungsarbeit.
Nicht minder wichtig war für Björn Mensing ein Treffen mit Janina Hemmerling. Bei seiner Recherche in Kcynia besuchte er die alte Dame, die als Zwölfjährige Zwangsarbeit als Kindermädchen bei den Mensings leisten musste. „Ich habe mehrfach nachgefragt, ob sie sich an irgendwelche Vorfälle erinnern könnte“, berichtet Björn Mensing. Doch Janina Hemmerling verneinte: Sie habe die Zeit im Hause seiner Großeltern nicht in schlimmer Erinnerung. Und ihr Vater, polnischer Mitarbeiter im Rathaus, habe Konrad Mensing als guten Chef bezeichnet. „Dennoch war er natürlich Teil eines Umfelds, in dem Polen als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden“, sagt dessen Enkel.
Nach der Flucht vor der anrückenden Roten Armee im Januar 1945 kehrte die Familie nach Hannover zurück. Konrad Mensing verdingte sich in einer Pilzkonservenfabrik. 1949 erfolgte seine Rehabilitierung, weil er als SPD-Mitglied selbst von politischer Verfolgung betroffen war und ihm als Amtskommissar im besetzten Polen keine Verbrechen nachzuweisen waren. Mensing wurde frühverrentet und lebte bis zu seinem Tod 1961 in Adendorf bei Lüneburg. Er starb ein Jahr vor der Geburt des Enkelsohns Björn.
Björn Mensing ist Historiker durch und durch. Objektivität und hartnäckiges Nachforschen sind sein Maßstab – auch wenn es um die eigene Familiengeschichte geht. Aber er ist eben auch Enkel und als solcher, selbst wenn er den vor seiner Geburt verstorbenen Opa nie kennenlernte, persönlich betroffen. Deshalb sei er „ein Stück weit erleichtert“: „Wenn das Ergebnis einer gründlichen Suche so ausfällt, ist es leichter, mit der Geschichte umzugehen.“ Die Biografie seines Großvaters sei eine Ermutigung, Familiengeschichte ohne Angst zu erforschen. Denn Konrad Mensings Beispiel zeige, dass es zwischen den beiden Kategorien „NS-Verbrecher“ oder „Widerstandskämpfer“ einen breiten Graubereich gab. „Im Ganzen gesehen lagen die meisten Deutschen wohl in diesem Bereich – so wie wir heute auch.“
Dennoch habe ihm die Recherche einmal mehr gezeigt: „Wenn ein autoritäres Regime erst da ist, besteht ein hohes Risiko, dass man sich darin verstrickt.“ Wer nicht aktiv in den Widerstand gehe, sei in fast allem, was er tue, Teil dieses Regimes. „Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass es nicht wieder zu einer autoritären Staatsform kommt – denn sie macht den Großteil ihrer Bürger zu Komplizen“, sagt der Pfarrer. (00/2920/01.10.2024)