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So kann es nicht bleiben, Gott!

Manchmal sind Erfahrungen so schrecklich, dass wir Gott darin kaum entdecken können. Was dann?

„Sehr gut“ hat Gott die Welt geschaffen. So steht es jedenfalls im ersten Schöpfungsbericht. Aber was ist mit Krieg? Und was mit Seuchen, Leid und Tod? Der Theologe Michael Roth, Professor für systematische Theologie und Sozialethik an der Universität Mainz, stellt die Frage, wie Menschen mit der Erfahrung umgehen können, dass Gott nicht nur „lieb“ ist. Seine Antwort: Beten.

Religiöses Reden von Gott unterscheidet sich von einer philosophischen Spekulation über Gott. In der Religion geht es nicht um das Für-wahr-Halten von Aussagen, die nicht belegbar sind und die wir „nur“ glauben, weil man sie nicht genau wissen kann. Vielmehr geht es um eine bestimmte Form der Wahrnehmung der Welt. Gegenstand der Religion sind daher auch nicht irgendwelche geheimen Hinterwelten, sondern diese Welt in einem besonderen Licht. Religion zeigt uns die Phänomene der Welt anders. Dies gilt auch für Gott: Gott ist nicht Gegenstand unserer Erfahrung, sondern Horizont unserer Erfahrungen.

Nicht nur über Gott, sondern mit Gott reden

Die primäre Tätigkeitsform des Christen ist, so Luther, das Beten. Dies ist auch die Form, in der die Glaubenden auf Gott bezogen sind: nicht in der Rede über Gott, sondern im Gespräch zu Gott. Dabei sind Dank, Klage und Bitte von Anfang an Elemente des Gebets. Bereits im Alten Testament antwortet der Mensch nicht nur im Dank, sondern auch in der Klage und der Bitte Gott, dem Erretter Israels. So lebt der alttestamentliche Beter von der Verheißung: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten…“ (Ps 50, 15).

Um zu verstehen, wie die christliche Frömmigkeit die Allmacht Gottes und die Abhängigkeit des Menschen im Gebet zum Ausdruck bringt, wenn sie sich in Dank, Bitte und Klage an Gott wendet, sind mehrere Aspekte wichtig:
Der Einzelne: Wendet sich der Mensch im Gebet mit seinen alltäglichen Nöten und Sorgen, mit der „Bitte um das tägliche Brot“, an Gott, so setzt dies voraus: Der Mensch versteht sich nicht als Element eines von Gott in Gang gesetzten Naturprozesses, sondern als von Gott persönlich Angeredeter, der seinerseits dazu ermächtigt ist, Gott persönlich anzureden.

Gerade aufgrund dieser Ermächtigung greift der Satz „Not lehrt beten“ zu kurz. Zwar macht er darauf aufmerksam, dass der betende Mensch ein bedürftiger, ein der Hilfe bedürftiger Mensch ist. Aber, so der Theologe Oswald Bayer: „Not kann in klaglose Resignation, in die Verzweiflung oder in den eigenmächtigen Versuch ihrer Überwindung treiben; sie führt aus sich heraus nicht notwendig in die Klage vor Gott. Dazu bedarf es des zuvorkommenden Wortes, einer Ermächtigung. Klage und Bitte geschehen nur kraft der Zusage ‚Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten…’“.

Aufgrund dieser Zusage vermag der Mensch im Gebet vor Gott auszusprechen, „was er sonst nur zu gerne verschweigt und kaschiert: nämlich dass er ein ausgesprochenes Mängelwesen ist und dass ihn auch die hemmungsloseste Selbstverwirklichung nicht vor Situationen bewahren kann, in denen er seine elementare Bedürftigkeit volens nolens erfährt und sich selber eingestehen muss, dass er nicht mehr aus noch ein weiß“, wie der Theologe Eberhard Jüngel formuliert. Gott hat mit dem Menschen eine Geschichte. Ich bin nicht einfach Mittel für etwas, auch nicht für etwas Großes wie das Reich Gottes.

Barmherzigkeit Gottes: Gerade im Bittgebet zeigt der Mensch, dass er sich nicht an einen Gott wendet, der aufgrund seiner Allmacht von dem Leid des Menschen nicht bewegt zu werden vermag, sondern an einen Gott, der sich durch das Leid des Menschen bewegen lässt. Von ihm erbittet der Mensch Hilfe in der Not. Dieses Vertrauen lässt sich nur dann verstehen, wenn die Grunderfahrung des Beters die Erfahrung von Gottes barmherziger Liebe ist, die Martin Luther so beschreibt: „das dir got szo hold ist, das er auch seinen sun fur dich gibt“.

Gott geht auf die Not der Menschen ein

Gerade in seiner Versöhnungstat hat Gott sich als der erwiesen, der auf die Not des Menschen eingeht, ja, der selbst in die menschliche Not eingeht. Und aufgrund dieser Erfahrung fragt der Beter nicht, ob der Begriff der Allmacht es denn überhaupt erlaubt, dass Gott sich als barmherzig und damit empfänglich erweist, indem er die Bitten des Menschen erhört, sondern er wendet sich vertrauensvoll an den barmherzigen Gott.

Gottes verborgenes Wirken: In der Klage bringt der Beter auch diejenigen „Lebenserfahrungen, für die man schlechterdings nicht dankbar sein kann und im Blick auf die jede Bitte zu spät kommt“ (Eberhard Jüngel) vor Gott. Wenn der Mensch diese Erfahrungen nicht überspringt, sondern im Gebet als Klage vor Gott bringt, so ist hiermit zunächst zweierlei vorausgesetzt: Zum einen, dass es kein Ereignis gibt, in dem Gott nicht wirkt; auch „im Widerfahrnis blind wütender Naturkatastrophen, unaufhebbaren Unrechts, unschuldigen Leidens, des Hungerns und Mordens, eines jeden Krieges, im Widerfahrnis unheilbarer Krankheit, die einen jungen Mensch tötet“ (Oswald Bayer). Gott ist in diesen Erlebnissen keinesfalls abwesend, sondern bedrohlich nahe. Gerade weil sich das Gebet an den Gott wendet, der alles in allem wirkt, wendet es sich auch mit diesen Lebenserfahrungen an Gott.

Zum anderen ist die Klage überhaupt nur zu verstehen, wenn zum Ausdruck gebracht wird, dass diese Erfahrungen dem Willen Gottes, wie er sich in Christus zugesagt hat, widersprechen: „Der Schrei der Empörung und Anklage setzt eine Erwartung voraus, die enttäuscht wurde“ (Oswald Bayer). Hat Gott sich in Christus als die barmherzige Liebe zugesagt, so werden diese Widerfahrnisse als Widerspruch zu seinem offenbaren Wesen und Willen erfahren. Gerade deshalb klagt der Mensch im Gebet, er verklagt den, der nicht als der erscheint, als der er sich zugesagt hat.

Luther ermahnt Gott im Gebet

Erfahrung der Widersprüchlichkeit Gottes: Mit Bitte und Klage bringt der Mensch im Gebet die Erfahrung der Widersprüchlichkeit Gottes zum Ausdruck, die Grund der menschlichen Anfechtung ist. So gilt es nach Luther „widder Gott zu Gott dringen und ruffen“, zu dem im Evangelium offenbaren Gott. Bereits der alttestamentliche Beter erinnert Gott immer wieder an seine Güte, Treue und Barmherzigkeit, fast als wolle er Gott dazu aufrufen, sich selbst nicht zu widersprechen. Auch Luther erinnert in seiner Bitte um Regen Gott an seine in Christus gegebene Zusage und Verheißung, ja Luther ermahnt Gott, dass er nicht der Lüge bezichtigt werde: „Nu, wir bitten so sehr und haben so oft gebeten, thust du es nicht, lieber Vater, so werden die Gottlosen sagen, Christus, dein lieber Sohn, lüge, da er spricht: ‚Wahrlich, wahrlich sage ich euch, was ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, das wird er euch geben’. Also werden sie zugleich dich und deinen Sohn Lügen strafen. Ich weiß, das wir von Herzen zu dir schreien und sehnlich seufzen, worum erhörest du uns denn nicht?“. Im Bittgebet für die Gesundheit des Kurfürsten Johannes begegnet gar die Drohung „…laß uns doch dir die Schlüssel nicht fur die Füße werfen“.

Christus als eindeutige Zusage Gottes

Das Gebet ist also bewegt und gekennzeichnet durch die Erfahrungen der Widersprüchlichkeit Gottes. Indem der Beter aber Gott an seine Verheißung und seine Zusage erinnert, wird deutlich, dass die einander widersprechenden Erfahrungen nicht als gleichwertige Erfahrungen des Wirkens Gottes verstanden werden. Das Übel und das Gute werden nicht gleichmäßig auf Gott zurückgeführt. Vielmehr wird Gottes Eintreten für den Menschen in Christus als eindeutige Zusage Gottes verstanden, auf die der Mensch sein Vertrauen richtet.

So vertraut der Beter darauf, dass Gottes Wort in Christus Gottes wahres Wort ist, auch wenn er es in den leid- und schmerzvollen Erfahrungen nicht wiedererkennen kann. Gegen die grauenhaften Erfahrungen, in denen Gott in seiner Zusage nicht wiederzuerkennen ist, flieht der Mensch im Gebet zu dem Gott, der für die Menschen in seinem Sohn eingetreten ist.

Von daher zeigt gerade das Gebet in seinen unterschiedlichen Formen von Klage, Dank und Bitte: Das Erleben des Glaubens lässt sich nicht als eine statische Existenz­weise beschreiben, es ist alles andere als eine ruhige, in sich gleichbleibende Grundbefindlichkeit in Bezug auf Gott. Stattdessen ist der Glaube eine Fluchtbewegung hin zu dem Ort, an dem Gottes vergebende Liebe erscheint.