Von Hartmut Ludwig
Von etwa 1800 evangelischen Pfarrern in Deutschland war Julius von Jan der einzige, der den Synagogenbrand in einer Predigt ein Verbrechen nannte. Am Bußtag, dem 16. November 1938, predigte er in Oberlenningen über den verzweifelten Ruf des Propheten Jeremia (22, 29) und fragte: „Wo ist in Deutschland der Prophet …, der im Namen Gottes ruft …: Haltet Recht und Gerechtigkeit …, tut niemand Gewalt und vergießt nicht unschuldig Blut! … Ein Verbrechen ist geschehen in Paris! … Aber wer hätte gedacht, dass dieses eine Verbrechen bei uns in Deutschland so viele Verbrechen zur Folge haben könnte?… Und wir als Christen sehen, wie dieses Unrecht unser Volk vor Gott belastet und seine Strafen über Deutschland herbeiziehen muss.“ Von einem SA-Trupp, der „Judenknecht“ und „Volksverräter“ brüllte, wurde Julius von Jan überfallen, schwer misshandelt, mit seiner Familie aus Württemberg ausgewiesen und, mit Unterbrechungen, bis 1943 inhaftiert. Etwa 20 Pfarrer gingen in ihren Predigten 1938 höchstens andeutungsweise auf den Pogrom ein. Am 6. Dezember 1938 mahnte so der württembergische Bischof Theophil Wurm in einem Runderlass: In der Predigt sei selbstverständlich alles zu vermeiden, „was einer unzulässigen Kritik an konkreten politischen Vorgängen gleichkommt.“ An Reichsjustizminister Gürtner schrieb er am selben Tag: „Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen.“ Die Ereignisse am 9. und 10. November 1938 hätten aber „weite Volkskreise bis weit in die Partei hinein seelisch erschüttert“, weil Brandstiftung und Misshandlung befohlen worden waren, von der Propaganda dann aber als „spontan vom Volke selbst veranlasst“ verkündet wurden. Von Wurm wird erzählt, er habe bis an sein Lebensende darunter gelitten, dass er – anders als der tapfere Pfarrer von Jan – zum Terror des Novemberpogroms geschwiegen hat.Die Ausschreitungen gegen die Juden, brennenden Synagogen und verwüsteten Geschäfte waren keine spontane Reaktion auf die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath durch den Juden Herschel Grynszpan in Paris. Es war alles lange geplant. Wochen vorher waren in den Konzentrationslagern Baracken errichtet worden, um die am 10. und 11. November verhafteten etwa 30000 jüdischen Männer aufzunehmen. Misshandelt starben mehrere oder wurden erst entlassen, wenn sie die sofortige Ausreise aus Deutschland nachweisen konnten.Wenige Stunden vor Beginn des Pogroms gab Minister Joseph Goebbels Polizei und Partei detaillierte Anweisungen für den Ablauf der Maßnahmen. Die Gestapo leitete mit dem Pogrom eine neue Phase der Verfolgung der Juden ein: Nach der zunehmenden Entrechtung folgte die forcierte Vertreibung, um Deutschland „judenrein“ zu machen. War die geordnete, gesetzliche Isolierung und Entrechtung der Juden noch akzeptiert worden, Gewaltexzesse wie am 10. November 1938 wurden von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Obwohl viele bestürzt, empört, verzweifelt waren, blieben sie aus Sorge vor den Konsequenzen für sie selber passiv. Schweigen bedeutete nicht Zustimmung.