Der Draufblick wie auch der Blick hinunter kann den Atem stocken lassen: Das Altstädtchen von Semur-en-Auxois oberhalb des Flüsschens Armançon gehört zu den Highlights in Burgund. Und das will ja etwas heißen…
Na klar, der Marktplatz ist schon sehr schön, sehr beschaulich: Ganz oben am Kopf die Marienkirche, die Hauptkirche des Ortes. Links und rechts kleine Läden und Geschäfte; dazu ein paar Marktstände: duftende Salami, ein Geflügelwagen, Seife und frisches Gemüse. Die Hauptattraktion aber ist unscheinbar, ja für die allermeisten unsichtbar. Nur wenn man klingelt, wird einem aufgetan. Jean-Marc öffnet das hölzerne Tor, heißt den Gast willkommen.
Der Garten hat schon bessere Tage gesehen, wirkt aber auf den ersten Blick sehr freundlich. Jean-Marcs Urgroßvater, ein renommierter Geologe, kaufte das stattliche Haus einst von den Erlösen seiner wissenschaftlichen Forschungsreisen durch ganz Europa. Diele, Salon, Treppenhaus: überall echte Kunst und auch mal Krempel. Heute nagt etwas der Zahn der Zeit daran – auch seit Jean-Marc (Name geändert) seinen Job als Medien-Texter an die Künstliche Intelligenz verloren hat. Nun vermietet er eben einen Teil seines Hauses an Touristen.
Und ganz zuletzt zeigt er, was man mit keinem Geld bezahlen kann: einen Balkon am Ende des Gartens. Gar nicht so riesig groß – aber dieser Ausblick! Steil fällt von hier die Felswand ab, hinunter ins Tal des Flüsschens Armançon, das durch die Unterstadt mäandert. Eine steinerne Brücke, links ein großer Viadukt – und rechts, in unmittelbarer Nachbarschaft: eine der mächtigsten Wehranlagen Burgunds; schroffe Rundtürme mit bis zu knapp sechs Meter Wandstärke. Willkommen in Semur-en-Auxois! Für einen unvergesslichen Abend – die Stadtmauern werden abends sehr wirkungsvoll angestrahlt – braucht es nun nur noch ein Baguette, eine Ecke Käse und ein gutes Glas Wein.
Der Hauptort der einstigen Grafschaft Auxois, mit gut 4.000 Einwohnern auf einem steilen Granitrücken gelegen, ist heute eine Perle des Tourismus im Département Côte-d’Or. Das war nicht immer so. Die ursprüngliche Aufgabe lautete, die umliegenden Täler zu kontrollieren. Schon in vorgeschichtlicher Zeit wurde das Gelände quasi als eine natürliche Festung verwandt; es war dann auch ein Militärposten in gallorömischer Zeit.
1082 fiel die Grafschaft Auxois an Burgund und 1477 mit Burgund an die französische Krone. Immer wieder wurde die imposante Festungsanlage in dieser Zeit dem militärischen Fortschritt angepasst. Mit ihrer strategischen Lage wurde Semur zwar immer wieder in Kriege verwickelt; es bot aber eben auch Raum für florierenden Handel und Gewerbe. Im Kampf um das burgundische Erbe wurde die Stadt 1478 von königlichen Truppen geplündert, 1589 in den Hugenottenkriegen belagert und hinterher von König Heinrich IV. zum Teil geschleift. Es folgte ein langer Dornröschenschlaf.
Wer beschützt also die Stadt: die mächtige Wehrbefestigung? Oder die am höchsten Punkt der Stadt gelegene Marienkirche, deren Grundstein 1225, vor genau 800 Jahren, gelegt wurde? Je nach Weltanschauung wird die Antwort verschieden ausfallen.
Die ehemalige Stiftskirche Notre-Dame de l’Assomption (Mariä Himmelfahrt) gehört zu den Hauptwerken der Gotik in Burgund. Das ist nicht unbedingt bekannt; denn die Region ist vor allem durch die romanische Architektur geprägt. Das Stift wurde 1060 oder 1065 von Herzog Robert I. von Burgund gegründet und mit Benediktinern aus dem nahen Flavigny-sur-Ozerain belegt, bekannt durch den Kinofilm “Chocolat” mit Juliette Binoche und Johnny Depp – und die Bonbons aus echtem Anis.
Das zunehmende Wallfahrtswesen – Semur war auch Station an einer Nebenstrecke des Jakobsweges – machte einen Neubau notwendig, der 1225 begonnen wurde. Im 14. Jahrhundert wurden die Westfassade mit Vorhalle und der Vierungsturm errichtet, im 15. und 16. Jahrhundert noch die Seitenkapellen. Das Kirchenschiff wirkt mit nur 6,50 Meter Breite, aber 31 Metern Höhe außergewöhnlich steil.
Wie so viele Kirchen in Frankreich erlitt auch sie im Zuge der Revolution von 1789 unersetzliche Verluste, etwa das komplette Figurenprogramm an der Westseite. Ab 1844 erfolgte eine grundlegende Restaurierung durch Frankreichs Chef-Restaurator Eugène Viollet-le-Duc, der eine besondere Beziehung zu dieser Kirche hatte. Immerhin hat sie einen Teil ihrer Innenausstattung aus Spätgotik und Renaissance bewahren können; unter anderem eine sehr eindrückliche burgundische Grablegung Christi vom Ende des 15. Jahrhunderts. Die Kirchenfenster gehen sogar bis ins 13. Jahrhundert zurück.
Besonders eindrücklich: Das Querhausportal (“Porte des Bleds”, Tor zu den Kornfeldern) aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, mit Christus als Weltenherrscher und originellen Szenen aus dem Leben des Apostels Thomas. Der Bogen oberhalb des Giebelfeldes ist ein Kalender aus Stein: Kleine Figuren zeigen die landwirtschaftlichen Beschäftigungen während der zwölf Monate des Jahres.
Produkte landwirtschaftlicher Beschäftigungen: Die kann man 800 Jahre später auch vor der Kirche auf dem Marktplatz begutachten. Und sie dann hinuntertragen – auf einen der schönsten Balkone der bekannten Welt…