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Reise ins Herz der Finsternis

Am Anfang ist die Grenze zwischen Polen und Belarus noch grün. Doch dann schalten Regisseurin Agnieszka Holland und Kameramann Tomasz Naumiuk in den Schwarz-weiß-Modus um. Der Film „Green Border“ führt das Publikum in eine Welt zwischen Hell und Dunkel, Gut und Böse, Hoffnung und Verzweiflung. Im Oktober 2021 landen die Syrer Bashir (Jalal Altawil) und Amina (Dalia Naous) zusammen mit ihrer Familie und anderen Flüchtlingen in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Vertrauend auf Versprechungen des Diktators Alexander Lukaschenko haben Bashir und Amina ihre Heimat in Harasta in Syrien verlassen, um über Polen nach Schweden zu gelangen. Der anfängliche Optimismus („Wir sind in Europa“) weicht der Einsicht, dass der Weg lang und beschwerlich sein wird. Anfangs sind es Probleme mit der anbrechenden Dunkelheit, der Kälte und mit Smartphone-Akkus, die schlapp machen. Europa erscheint dennoch als Verheißung für die Menschen aus unterschiedlichen Ländern, für Alt und Jung. Englisch ist die Lingua franca, mit der sie sich verständigen können.

In rund zweieinhalb Stunden unternimmt die polnische Filmemacherin Holland eine Reise ins Herz der Finsternis. An der Grenze verkaufen belarussische Grenzposten den durstigen Flüchtlingen Mineralwasser für 50 Euro die Flasche. Die Frage „Warum tut ihr uns das an?“ beantworten sie mit zynischem Gelächter. Bashir und alle anderen werden Opfer organisierter Grausamkeit. Von Polen werden sie nach Belarus zurückgebracht. Naumiuks Kamera nimmt Jagdszenen im Sperrgebiet auf, Menschen, sogenannte „Touris“, werden transportiert wie Vieh. Stacheldraht, Gebrüll, Drangsalierung und weinende Kinder sind Ausdruck staatlich verordneten Terrors. Die Schauspieler beglaubigen die Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen, die ihren Figuren widerfahren, mit großer Intensität.

Man darf Hollands Werk als filmischen Protest gegen die Politik Lukaschenkos verstehen, der Flüchtlinge mit leeren Versprechungen angelockt und ihr Schicksal politisch ausgebeutet hat. Intensiver noch richtet Holland den Fokus ihrer leidenschaftlichen Polemik gegen die gerade abgewählte rechtsnationalistische PiS-Regierung Polens.

Die Folgen einer menschenverachtenden, durch Radiopropaganda unterstützten Flüchtlingspolitik illustriert die Regisseurin, indem sie unterschiedliche Lebenslinien verfolgt. Jan (Tomasz Wlosok), ein junger Grenzschützer und werdender Vater, erlebt die Indoktrination seiner Vorgesetzten mit Sätzen wie „Das sind keine Menschen!“.

Die Psychotherapeutin Julia (Maja Ostaszewska) wird zur zentralen Figur menschlicher Anteilnahme. Ihre nur zögerlich wachsende Zuwendung und Hilfsbereitschaft wirkt authentischer als die bisweilen politformelhaft argumentierenden Aktivisten im Film. Auch Julia erfährt eine schikanöse Behandlung, für eine Leibesvisitation muss sie sich nackt ausziehen. Sie verzweifelt an ihrem Land, sieht aber ein, dass sie nicht ganz Polen therapieren kann.

Der Film hält sich fast die ganze Zeit in existenzieller Finsternis auf, scheinbar unfähig, aus dem Teufelskreis der dargestellten Gräuel auszubrechen. Nur am Ende dringen Lichtstrahlen ins Dunkel ein. Jan, der Beamte des polnischen Grenzschutzes, hat einen Bewusstwerdungsprozess durchlaufen, er sieht die Welt nicht mehr ganz schwarz-weiß. Und eine Familie nimmt französisch sprechende Flüchtlinge aus Afrika auf. Das Lied „Mourir mille fois“ von Youssoupha schafft einen Gastgeber und Gäste verbindenden emotionalen Moment.

Hollands Film schließt mit dem Hinweis, dass Polen in den ersten Wochen des Angriffskrieges gegen die Ukraine 2022 fast zwei Millionen Ukrainer willkommen geheißen habe. An der polnisch-belarussischen Grenze sterben im Frühling 2023 immer noch Menschen.