Der Rechtsanwalt des früheren „Bild“-Chefredakteurs Julian Reichelt, Ben Irle, wünscht sich mehr Nüchternheit in der Berichterstattung über mögliche sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch. „Die Emotion muss aus dem MeToo-Thema raus“, sagte der Jurist am Montag beim Presserechtsforum des Deutschen Fachverlags (DFV) in Frankfurt am Main. In den Redaktionen bestehe derzeit „ein höheres Interesse, die Geschichte zu schreiben, als sie nicht zu schreiben“.
Irle verwies darauf, dass die Auswirkungen von MeToo-Berichten für die Beschuldigten enorm seien. „Der Vorwurf des Machtmissbrauchs ist ein Instrument, um Menschen gesellschaftlich zu töten“, sagte der Gründungspartner der Berliner Kanzlei Irle Moser. Die Anforderungen an die Verdachtsberichterstattung seien deshalb zu Recht hoch.
Reichelt war nach Vorwürfen des Machtmissbrauchs im Oktober 2021 als „Bild“-Chefredakteur entlassen worden. Wie der „Spiegel“ damals berichtete, soll der Journalist Affären mit jungen Kolleginnen gehabt haben, die ihm anschließend Mobbing und das Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen vorwarfen. Reichelt hat die Vorwürfe stets dementiert.
Der Berliner Rechtsanwalt Johannes Eisenberg sagte, die von Irle gesehene theoretische Missbrauchsgefahr könne nicht dazu führen, dass keine Verdachtsberichterstattung zu MeToo-Fällen erfolgen dürfe. Wenn es Vorfälle in einem „strukturellen Machtverhältnis“ gebe, fielen diese nicht mehr die Privatsphäre der Beschuldigten. Journalisten müssten aber ihren Erkenntnisgang vor Gericht plausibel erklären können, sagte Eisenberg, der unter anderem für die „tageszeitung“ arbeitet.
Die Vizepräsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, Verena Haisch, kritisierte, dass die mutmaßlichen Opfer von MeToo-Übergriffen eine „viel zu geringe Rolle“ in der Debatte spielten. Betroffene Frauen legten oft detaillierte eidesstattliche Versicherungen vor, während die Beschuldigten häufig pauschal alle Vorwürfe abstritten.
Das Presserechtsforum wird organisiert von der Zeitschrift „Kommunikation & Recht“, die in der DFV Mediengruppe in Frankfurt erscheint, und der Hamburger Anwaltskanzlei Damm & Mann. Die jährliche Veranstaltung fand zum 13. Mal statt. Etwa 150 Teilnehmer diskutierten über aktuelle Fragen des Presse- und Medienrechts.