Zur Mitte des 77. Cannes-Festivals werden bereits die ersten Palmen-Kandidaten gehandelt. Was für einen guten, sogar starken Wettbewerb spricht – aber noch mehr mit zwei herausragenden Filmen zu tun hat.
Dass Filmkritiker in Cannes aus einer Premiere kommen und davon schwärmen, soeben die “Goldene Palme” gesehen zu haben, ist eher ungewöhnlich – es könnte sich ja schon der nächste Film als noch überzeugender erweisen. Die Begeisterung nach “Emilia Perez” des französischen Regisseur Jacques Audiard war allerdings überschießend. Der mitreißende Film verbindet eine äußerst ungewöhnliche Geschichte mit mehr als einem Dutzend bewegender Songs und einer höchst einfallsreichen filmischen Gestaltung.
Ein mexikanischer Kartell-Boss, gespielt von der transgeschlechtlichen Klara Sofia Gascon, will nicht mehr er selbst sein, sondern eine Frau werden. Schon seit Kindertagen sehnt er sich danach, eine andere zu sein. Eine smarte Rechtsanwältin (Zoe Saldana) soll ihm den Weg ebnen und nicht nur den besten Mediziner finden, sondern auch alle anderen Wege ebnen, damit der Gangster von der Bildfläche verschwinden und als Frau ein anderes Leben führen kann.
Der Plan geht auf, und vier Jahre später kennt nur noch die Juristin das Geheimnis der gewinnenden Emilia Perez. Die elegante Frau hat in Mexiko City eine Organisation ins Leben gerufen, um die anonym verscharrten Opfer der Kartelle zu exhumieren und ihren Angehörigen endlich Klarheit über deren Schicksal zu verschaffen. Die mit dem Geschlechtswandel verbundenen Hoffnungen, nicht nur den von Tattoos übersäten Körper, sondern auch dessen (männliche) Destruktivität hinter sich zu lassen, scheinen aufzugehen.
Bis aufs Durchsetzungsvermögen – und den unbegrenzten finanziellen Mittel – ist von dem grausamen Killer nichts mehr übrig. Selbst seine Ehefrau und seine beiden Kinder ahnen nicht, was ihre bislang unbekannte Tante Emilia mit dem für tot erklärten Manitas verbindet. Dass dieser gewagte Plot auch im Rahmen eines Musicals nicht ins Märchenhafte abgleitet, hat mit einer sorgfältigen Grundierung der Handlung im Alltag und dem Verzicht auf durchgängige gesungene Dialoge zu tun.
Die von dem französische Duo Camille & Clement Ducol geschaffenen Chansons fügen sich mit perfekt choreografierten Tänzen und raffinierten szenischen Verschränkungen so nahtlos ins Geschehen, dass selbst ein Duett nicht nach Bühne klingt. Und auch die vom Mode-Label Saint Laurent kreierten Outfits passen trotz ihrer großblumigen Opulenz in den dezidiert nicht-künstlichen Rahmen.
Auch der zweite “Palmen”-Anwärter steht “Emilia Perez” musikalisch in nichts nach, obwohl “Limonov – The Ballad” von Kyrill Serebrennikow nichts Musicalhaftes an sich hat, sondern durchgängig dem trotzigen Gestus des Punks huldigt. Mit der rohen Direktheit dieser Musik erzählt der russische Dissident Serebrennikow die Geschichte des Schriftstellers und späteren Rechtspopulisten Eduard Limonov (1943-2020). Er lebte als Exilant in den USA und in Frankreich, kehrte nach dem Zerfall der Sowjetunion nach Russland zurück und stieg zu einem Star der nationalistischen Rechten auf. Der Film basiert auf einer Biografie von Emmanuel Carrere.
In dem britischen Schauspieler Ben Whishaw hat Serebrennikow einen glänzenden Hauptdarsteller gefunden, dessen hagere Gestalt Limonovs Widersprüche umso schmerzhafter vermittelt. Mit großer visueller Souveränität und einer erstaunlichen Fülle an stilistischen Varianten zeichnet der in knapp zehn Kapitel unterteilte Film dessen Weg aus Charkiw nach Moskau und ins Exil nach New York nach, mit viel Punk- und Rockmusik im Soundtrack und wechselnden filmischen Formaten und Materialien. Dabei nimmt die scheiternde Liebesgeschichte mit dem Model Elena (Viktoria Miroshnichenko) großen Raum ein.
Auch darüber radikalisiert sich Limonovs Unangepasstheit, die auch aus seiner existenziellen Einsamkeit heraus in immer radikalere Fantasien umschlägt. Seine schriftstellerische Tätigkeit oder seine philosophischen und politischen Ansichten werden nur gestreift und bleiben bis auf ein paar Statements außen vor; allerdings scheint Serebrennikow einen Zusammenhang zwischen Ohnmacht, Verarmung und einem Kult physischer Stärke anzudeuten.
Wie die literarische Vorlage streift auch der Film die beiden letzten Lebensjahrzehnte von Limonov nur am Rande, was insbesondere seine Rolle innerhalb der extremen russischen Rechten nur andeutet
Der radikalste, weil gar nicht so leicht zu entschlüsselnde Film aus dem diesjährigen Wettbewerb in Cannes stammt jedoch einmal mehr von dem griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos. “Kinds of Kindness” kreist mit einer Art Triptychon um seine zentralen Themen Liebe und Unterwerfung, Gehorsam und Kontrolle. Der Clou der drei mittellangen Teile besteht darin, dass die prominenten US-amerikanischen Darsteller Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe und Margaret Qualley in unterschiedlichen Rollen besetzt sind und so nicht nur Glanzstücke ihrer Kunst präsentieren können, sondern auch zu Querverweisen oder Gedankensprüngen zwischen den Episoden reizen.
Alles dreht sich dabei scheinbar um eine Figur namens RMF, die im ersten Teil zu Tode kommen soll, was aber nicht auf Anhieb gelingt, weil der Todbringer (Jesse Plemons) zu zögerlich das Auto des Unglücksraben rammt. Als ihm sein Chef (Willem Dafoe) eine zweite Chance einräumt, kneift er erneut, da er nicht für den Tod eines anderen verantwortlich sein will.
Dieser “Ungehorsam” hat dann aber zur Folge, dass er in Ungnade fällt und alle Privilegien verliert. Darüber wird ein mysteriöser Deal sichtbar, mit dem sein Auftraggeber gottgleich jeden einzelnen seiner Schritte dirigiert, vom Outfit über den Tagesablauf bis hin zum Sex mit der ebenfalls vorab vermittelten Ehefrau.
Auch der zweite und dritte Teil bewegen sich im Koordinatennetz eines verqueren, aber höchst unterhaltsamen Gedankenspiels über die Abgründe der Liebe. Einmal geht es um Abweichungen von der Vorstellung, wie der andere ist oder zu sein hat, das andere Mal um Loyalität und die Zugehörigkeit zu einer Sekte, die nach dem ewigen Leben sucht.