Der alte Mann hat sich vorbereitet. Mit zittrigen Fingern kramt er einen Zettel hervor und erzählt mit brüchiger Stimme, dass er seit über 30 Jahren das erste Mal in der Kirche sei und als ehemaliger Schulleiter früher die Schüler gepiesackt hätte, die den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ trugen. Er habe begriffen, dass das falsch war und möchte sich heute dafür in aller Form entschuldigen. Einer seiner ehemaligen Schüler ist heute Vorsitzender des Gemeindekirchenrates der Kirchengemeinde Bad Wilsnack und hört bewegt zu. Später erzählt er mir, wie seine Geschwister und er mächtig unter dem Schulleiter gelitten haben.
Havelberg, der Landesbischof Friedrich Kramer von der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKMD) ist da: Ein junger Mann – ein Kind auf dem Arm, ein anderes klammert sich an sein Knie – entgegnet dem Friedensbeauftragten der EKD, der sich gegen Waffenlieferungen ausspricht, dass er froh sei, dass seine Kinder in einer freiheitlichen Demokratie aufwachsen können, ohne Angst vor den Repressionen einer Autokratie. Er verstehe so gut, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer sich das auch für ihre Kinder wünschen und dafür leidenschaftlich kämpfen. Und er finde es richtig, sie darin mit aller Kraft zu unterstützen – auch mit Waffen, wenn es sein muss.
Dankbar für den Diskurs
In Perleberg diskutieren die Gemeindeglieder mit Bischof Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Schlesische Oberlausitz (EKBO), ob es nicht endlich mal Zeit wäre, dass die Leitenden der Kirchen mit einer Stimme ein Machtwort für den Frieden sprechen. Andere halten dagegen: Sie wären dankbar für den Diskurs. Dieser gehöre nach ihrem Verständnis zum Protestantismus, der uns auffordert, selbst Verantwortung vor Gott und den Menschen zu übernehmen und unserem Gewissen zu folgen. Und wie oft hätte sich „die Kirche“ in vergangenen Zeiten auch geirrt?
Einer erzählt, wie sprechend und ausdrucksstark die kleinen Friedenszeichen vor Ort seien, das konkrete Engagement in der Flüchtlingsarbeit, die Unterstützung bei Umzügen in eigene Wohnungen, der Hilfstransport in ein ukrainisches Kinderheim, die Spenden für die Tafeln, damit alle satt werden, die wöchentlichen Treffs für Begegnung und Austausch. Eine andere Besucherin fragt selbstkritisch, wo denn unser Engagement für Syrien gewesen sei?

So beginnt Frieden, denke ich inmitten dieser Gespräche im Rahmen der Reihe „Leiden_schaftlich für Frieden“, die an verschiedene Orte der Prignitz an den Passionssonntagen zu besonderen Gottesdiensten einlädt. Viele Gemeindeglieder nehmen die weiten Wege zwischen Wusterhausen, Perleberg, Pritzwalk und Havelberg in Kauf, um dabei zu sein und sich gemeinsam der Frage zu stellen: Wie wird Friede? Wir hören einen biblisch fundierten Impuls, wir beten miteinander und dann wird diskutiert. Jeder lässt den anderen ausreden. Niemand wird beleidigend, keine wird des Raumes verwiesen, alle dürfen ihre Meinung sagen.
Kontroverse, Argumente und die Anerkennung von Realitäten
Das kann Kirche. Hat es in Zeiten der Friedlichen Revolution schon eingeübt; hat ihre Türen geöffnet und den Stimmen Raum gegeben, die sonst nicht gehört wurden. Dabei sind die Meinungen nicht beliebig oder gleichgültig. Zu einem leidenschaftlichen Diskurs, der dem Frieden dient, gehört die Kontroverse, gehören sachliche Argumente und die Anerkennung von Realitäten. Nicht zuletzt erweist sich eine Gemeinschaft als christliche Gemeinschaft, wenn sie sich in der Nachfolge Jesu konsequent an die Seite der Opfer stellt.
Dietrich Bonhoeffer schrieb 1942: „Auf der Flucht vor der öffentlichen Auseinandersetzung erreicht dieser oder jener die Freistatt einer privaten Tugendhaftigkeit. Aber er muss seine Augen und seinen Mund verschließen vor dem Unrecht um ihn herum. … Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare – wenn auch vorübergehend sehr demütigende – Lösungen entstehen.“ (DBW 8, S. 22.24)
Wir machen uns schuldig
Auch diese Einsicht gewinnen wir: Wir machen uns schuldig. Wenn ein Land Waffen liefert, werden durch diese Waffen Menschen sterben. Wenn wir der Ukraine nicht helfen, sich zu verteidigen, nehmen wir hin, dass ein ganzes Volk vernichtet wird. Die politisch unanfechtbare Lösung für den Frieden in der Welt finden wir in den Gottesdiensten nicht. Aber als Christinnen und Christen ringen wir miteinander sehr ernsthaft um die Frage, wie kommende Generationen weiterleben sollen und können. Dafür bin ich dankbar und auch ein wenig stolz auf meine Kirche.