Am Samstag musste die Premiere am Münchner Residenztheater wegen Erkrankung ausfallen; dafür las Franz Xaver Kroetz selbst aus seinem neuen Stück. Schon da gab’s viel Applaus – wie nun für die gelungene Uraufführung.
Im Anfang sind die Worte “Do waar i wieda amoi” (Da wäre ich wieder einmal). Und es ist ja auch am Mittwochabend eine Rückkehr des “Boanlkramer”, wie er bei Franz Xaver Kroetz in den “Gschichtn vom Brandner Kaspar” heißt, auf die Bühne des Münchner Residenztheaters. Denn dort verkörperte der legendäre Toni Berger (1921-2005) den Tod in Kurt Wilhelms Kultstück “Der Brandner Kaspar schaut ins Paradies” weit über tausend Mal.
Sein dieser Tage diensthabender Kollege, andernorts auch Sensenmann oder Gevatter Hein genannt, wird grandios von Florian von Manteuffel gespielt. Der trägt passend für sein Gewerbe ein weißes Hemd mit schwarzem Anzug und gleichfarbiger Krawatte. Und so steht er als “Boanl” mitten im Himmel, um die Liste mit den Todeskandidaten in Empfang zu nehmen. Ein barockes Wolkenmeer tut sich auf, in dem Petrus in päpstlich weißen Gewändern samt roten Schuhen auf einem Thronsessel herein schwebt; dazu zwei Frauen im weiß-blauen Dirndl als “Hosianna” singende Engel.
Der für Regie und Bühnenbild verantwortliche Philipp Stölzl hat einen überdimensionalen, doppeltürigen Bauernschrank entworfen. Darauf zu sehen ist eine oberbayerische Berglandschaft mit Alm, Wiese und weidenden Kühen – in naiver Weise aufgemalt und gekrönt von einer Muttergottes, wie sie in Wallfahrtsorten auf Votivtafeln zu finden ist. Von oben herab wacht die “Himmelskönigin” über alles, was drunten und droben passiert, auch wenn sich der Guckkasten öffnet.
Der Plot ist bekannt: Ein bayerischer Sturschädel legt sich mit dem Tod an. Er gibt ihm Kirschgeist zu trinken und bescheißt ihn beim Kartenspiel, um sich weitere Jahre bis zu seinem 90. Lebensjahr zu sichern. Doch letztlich vereinsamt das Schlitzohr immer mehr. Seine Frau ist bereits tot, und dann stirbt noch seine 19-jährige Enkelin Josefa (engagiert verkörpert von Elisabeth Nittka) vor ihm. Er lässt sich auf das Angebot des “Boanlkramers” (Knochenhändler) ein, ihm einmal das Paradies zu zeigen. Der Brandner bleibt – und die himmlische Hausordnung ist wieder im Lot.
“Etwas opulenter” möge das Publikum das Ganze noch erleben, als er die Geschichte habe vortragen können, hatte Kroetz bei seiner Lesung am Samstag gewünscht. Er war eingesprungen, weil Hauptdarsteller Günther Maria Halmer am Premierentag kurzfristig erkrankt war. Der wiedergenesene 82-Jährige scheint vom drei Jahre jüngeren Autor eine späte Rolle auf den Leib geschrieben bekommen zu haben. Obwohl Halmer in vielen Film- und TV-Produktionen mitspielte, blieb sein “Tscharlie” in den “Münchner Geschichten” unvergessen. Nun ist es dieser Kroetzsche Brandner, der mit ihm wohl verbunden bleiben wird.
Kroetz ist für seinen kraftvollen, bisweilen auch derben bairischen Dialekt bekannt. Damit schafft er es, selbst in einem eher romantischen Stück gesellschaftskritische Töne einfließen zu lassen. Sei es nur das Klagen über die Regierung oder dass die “Leit” immer depperter werden. Das sorgt für Lacher und Applaus auch dann, wenn Petrus-Darsteller Michael Goldberg nicht mehr Hochdeutsch spricht, sondern eine Schimpfkanone bayerischer Schimpfwörter raushaut und beim Publikum nachfragt: “Wie war ich?”
Man nimmt Halmer die Rolle des fürsorglichen Großvaters ab, der seiner Enkelin erzählt, wie er bei einer Bergtour die “Oma” dank Gewitters für sich eroberte. Wieder unten: “Dann hat’s mir ghört”. Großartig ist die Szene, wenn der Brandner nach dem plötzlichen Tod Josefas mit dem Herrgott hadert: “Wie hast Du das zulassen können”, konfrontiert er den am Gipfelkreuz hängenden Jesus. Doch der schweigt ihn an: “Wir sind fertig miteinander!”
Einem Häufchen Elend gleich sitzt Brandner im weißem Nachthemd und langen Unterhosen auf seinem Bett, als der “Boanl” noch einmal bei ihm vorbeischaut. Er lässt sich überreden, einen Blick ins Paradies zu wagen. Was dann passiert, hatte sich Kroetz gewünscht, “nur mit alten Theatermitteln” umzusetzen. Stölzl lässt zur Gaudi des Publikums die beiden samt Bettstatt auf die Reise gehen. So fliegen sie über Wiesen und Berge, sehen Kühe, Gänse, Skifahrer, rasen durch die Meerestiefen vorbei an der gesunkenen Titanic, um sich einen Eindruck von der Hölle zu verschaffen.
Im Zeitalter schriller Videoclips ist dieser Ritt ein wahrer Theatergenuss, der damit endet, dass der Brandner im Himmel bleiben will. Denn Heimat ist da, wo die Familie ist. Der Boanl atmet auf und schließt die Flügeltüren. Sein Auftrag ist erledigt: “Wer drin ist, ist drin.”