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“Poor Things” – Gewinner bei den Golden Globes neu im Kino

Zwei Golden Globes gab es für diesen sexpositiven Retro-Science-Fiction-Film. Es geht um einen Wissenschaftler, der aus einer Toten und dem Gehirn eines Babys ein Wesen erschafft, das ohne Scham sich und die Welt erkundet.

Wenn irgendetwas “explizit” sein soll an “Poor Things”, dann sicher nicht seine jetzt schon berüchtigten Sexszenen, die eher jenem “wilden Herumspringen” ähneln, als das sie im Film zuweilen bezeichnet werden. Explizit ist vielmehr das permanente Sich-Selbst-Kommentieren des Films, der in einem retro-futuristischen London des späten 19. Jahrhunderts spielt und dessen Inhalt eine einzige Allegorie auf ihn selbst darstellt.

“Poor Things” ist eine Kreation des fantasievollen Autorenfilmers Yorgos Lanthimos, die von Emma Stone gespielte Bella Baxter eine Kreatur ihres Schöpfer-Gottes Dr. Godwin (Willem Dafoe), der das Göttliche schon im Namen trägt.

Godwin hat einst den Körper einer hochschwangeren Selbstmörderin aus der Londoner Themse gefischt, um ihm das Hirn ihres Babys einzusetzen. Das Resultat dieser Operation, Bella Baxter, ist anfangs geistig ein Säugling im Körper einer erwachsenen Frau, die mit den Jahren die Entwicklung bis ins Alter einer jungen Erwachsenen durchlebt. Dementsprechend fallen ihre zu Beginn des Films steifen, ungelenken Bewegungen aus.

Godwin, den Bella nur “God” oder “Daddy-God” nennt, ist aber kein sadistischer Frankenstein, sondern ein gemarterter Fleischberg, an dem schon sein eigener grausamer Gott-Vater im Dienst der Wissenschaft wahnwitzige Experimente vollführt hat.

Je älter Bella wird, desto mehr erwachen ihre Sexualität und ihre Lust, dem Haus zu entfliehen, in das ihr Schöpfer sie einsperrt. Bis sie Godwin dazu überredet, in Gesellschaft eines attraktiven Mannes (Mark Ruffalo) die Welt bereisen zu dürfen.

Das ist teilweise sehr witzig. Und vor allem Emma Stone gibt alles. Der Körper, den sie spielt, gibt alles, und die Sprache, die sie spricht, gibt alles. Bella nimmt kein Blatt vor den Mund, ignoriert die Regeln der feinen Gesellschaft und nennt die Dinge beim Namen. Zu Recht erhielt sie jetzt den Golden Globe als beste Hauptdarstellerin im Bereich Komödie/Musical. Und “Poor Things” wurde auch als bester Film in diesem Bereich ausgezeichnet.

Durch ihre Ehrlichkeit wird Bella zum Spiegel für die Männer, die versuchen, sie zu besitzen, zu manipulieren und einzusperren. Sie ist der Spiegel, in dem sich die Männer sehen, um an ihrer Erbärmlichkeit zu krepieren.

Denn Bella ist von Anfang an “perfekt”. Es gibt nichts, was von Bella erst noch “erlernt” werden muss (zum Beispiel die Liebe); vielmehr ist ihre Sexualität, einmal entdeckt, vollständig entwickelt, um sich danach nur immer weiter auszudehnen, sich alles einzuverleiben wie ein gefräßiges Tier. Das Resultat ist monströs: Bella ist eine Figur, die absolut identisch ist mit sich, die nie von sich abweicht, sich nie verrät, sich nie konterkariert, nie aus der Rolle fällt (weil sie es ohnehin ständig tut), sich nie täuscht, nie zaudert, nie schwächelt.

Ebenso der Film: “Poor Things” ist maximalistisches Kino, zum Bersten gefüllt mit Ideen, visuellen Einfällen und Kreaturen. Für den Mangel ist in ihm kein Platz. Der Film will alles auf einmal sein. Ein großes Amalgam: Schwarz-weiß und Farbe, rosaroter Wolkenschimmer und blutiger Körperhorror, Vergangenheit und Zukunft. Auch Bella ist alles zugleich: Puppe wie Mensch, Kind wie Erwachsene, Mutter und Tochter.

Man kann es auch so formulieren: Es gibt in “Poor Things” einen eklatanten Mangel an Scham. Und es ist diese Scham, diese Zurücknahme oder Zurückhaltung, die man irgendwann vermisst. Weil der Film schlichtweg keinen Platz lässt für irgendetwas anderes als ihn selbst. Zum Beispiel für den Zweifel. Oder für seine Zuschauer.

Das sagt einiges über das Menschenbild aus, das von Lanthimos und Stone/Baxter vermittelt wird. “Poor Things” wird von einem unverschleierten Diskurs der Selbstoptimierung bestimmt, nach dem, wie Bella Baxter es formuliert, die Menschen “verbessert” werden müssen. Wie “Barbie” und “Oppenheimer” kann man den Film als Beispiel einer Fiktion lesen, deren Sinn darin besteht, eine verbesserte, reflektiertere, vollständig kommentierte Version ihrer Puppen und Monstren hervorzubringen. Und, natürlich, auch ihrer Filme!