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Pfingsten – ein Fest der Globalisierung

Mit Pfingsten können die Deutschen wenig anfangen. Dabei gibt es viele Bezüge zu aktuellen Entwicklungen. Man kann darin auch ein Fest der Globalisierung sehen.

Wenn der britische Historiker Timothy Garton Ash an den Zusammenbruch des Ostblocks Ende der 80er Jahre und die Freiheitsbewegungen in der Ukraine und dem damaligen Weißrussland denkt, denkt er auch an Pfingsten. “Auch hier gab es die pfingstliche Erfahrung, dass Männer und Frauen, die lange geschwiegen hatten, zum ersten Mal die Chance ergriffen, frei zu sprechen”, schreibt er mit Blick auf Massenproteste in Belarus 2020 in seinem 2023 erschienenen Buch “Europa. Eine persönliche Geschichte”.

Die “pfingstliche Erfahrung”: Das ist nach den Berichten der Bibel die Erfahrung der Apostel Jesu, dass der Heilige Geist sie aus angsterfüllten und enttäuschten Anhängern ihres gekreuzigten Meisters zu mutigen Missionaren der Frohen Botschaft Jesu machte. Feuerzungen, Sprachwunder und Sturmgebraus – das sind die Bilder, die die Bibel am Pfingstfest gebraucht, um diesen dramatischen Wandel zu beschreiben.

Glaubt man dem Philosophen und Politikwissenschaftler Otto Kallscheuer, lässt sich Pfingsten auch als ein Fest der Globalisierung beschreiben. Die biblischen Ereignisse in Jerusalem hätten die Vorstellungen vom Gottesreich “neu codiert” und universalisiert, schreibt er in seinem gerade erschienenen opulenten Buch über “Papst und Zeit. Heilsgeschichte und Weltpolitik”.

Zwei Katastrophen stehen am Anfang dieser revolutionären Entwicklung: der grausame Foltertod von Jesus, der seine Anhänger orientierungslos und desillusioniert zurückließ. Und die Vernichtung des Tempels in Jerusalem durch die Römer im Jahr 70 nach Christus, der Juden und auch Juden-Christen vor die Frage stellte, ob es diesen Gott gab und was er durch diese Katastrophen sagen wollte.

Eine Weg-Kreuzung, an der Christen und Juden unterschiedliche Richtungen wählten. Denn während sich die meisten jüdischen Gemeinden unter Führung von Schriftgelehrten als Volk Israel reorganisierten und auf eine Wiederherstellung des “Königreiches Davids” hofften, entschieden sich die Christen laut Kallscheuer für eine Neudefinition des “Volkes Gottes”: eine Aussendung der Heilsbotschaft Jesu auf alle Menschen durch den Heiligen Geist und die Mission.

Feuerzungen, Sprachwunder und Sturmgebraus markieren diese historische Wende: Beim Turmbau zu Babel hatte Gott die Menschheit wegen ihres Hochmuts mit einer Sprachverwirrung bestraft – eine Geschichte vom Scheitern der Verständigung untereinander. Die Erzählung vom Pfingstereignis ist die Anti-Geschichte: “Parther, Meder und Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Judäa und Kappadozien….” verstanden einander plötzlich.

Allerdings – und darauf verweist Kallscheuer – stellte Gott die mythische Einheit der Sprache nicht wieder her. Alle Hörer empfangen die Botschaft durch die Vermittlung des Heiligen Geistes in ihrer eigenen Sprache – die Erlösungsbotschaft Jesu richtet sich also an alle Menschen, an jeden persönlich. An die Stelle des jüdischen Verständnisses vom auserwählten Volk tritt damit das universelle christliche Volk Gottes in Gestalt der Kirche.

Vielen Deutschen ist diese Erzählung vom Geist Gottes inzwischen fremd geworden. Obwohl Pfingsten wie Ostern und Weihnachten gleich zwei Feiertage hat, können die wenigsten mit dem christlichen Hochfest noch etwas anfangen. Dabei hat die Erzählung vom Geist Gottes auch die Geschichte der westlichen Welt maßgeblich beeinflusst, wie der evangelische Theologe Jörg Lauster in seiner 2021 erschienenen “Biographie des Heiligen Geistes” nachweist.

Der Geist ist die große verändernde Macht, die Visionen befeuert, Künstler und Prediger inspiriert und Traditionen und Autoritäten untergräbt. In politischen Utopien, in philosophischen Freiheitsideen, im künstlerischen Geniekult oder in der modernen Naturbetrachtung zeigt sich, dass dem göttlichen Geist auch in einer säkularisierten Welt Einfluss zugeschrieben wird: von Hegels “Weltgeist” bis zu den heutigen, politisch einflussreichen Pfingstkirchen in Brasilien oder den USA.

Zugleich weist Lauster darauf hin, dass es auch eine negative Seite gibt: Schon der Apostel Paulus kritisiert Menschen, die sich als Träger des Geistes profilieren und sich damit anderen überlegen fühlen. “Es gehört zu den Kehrseiten der Geschichte des Heiligen Geistes, dass die enthusiastische Berufung auf ihn am Anfang aller Spaltungen der Kirche steht”, schreibt er.