Vor der historischen Kirche wiegen sich die Zweige der Dattelpalme sanft im Sommerwind. Das Verkehrsrauschen der nahe gelegenen Bundesstraße ist hinter den hohen Klostermauern kaum zu hören. Elke Stern geht über die Wiese und blickt prüfend in die Beete. Zwischendurch bückt sich die 69-Jährige immer wieder, um hier und da Unkraut zu zupfen. „Hinter dieser Mauer ist man in einer anderen Welt“, sagt sie. Vor 21 Jahren hat Stern rund um die evangelische Klosterkirche St. Lorenz im Schöningen bei Helmstedt einen „Bibelgarten“ angelegt. Mittlerweile wachsen dort mehr als 150 Pflanzen, darunter zahlreiche Kakteen, ein Ölbaum oder ein „Judasbaum“.
Zu jeder Pflanze ein Bibelvers
Auf Metallschildern finden die umherwandernden Besucher zu jeder Pflanze einen passenden Vers aus der Bibel. So erinnern die Palmen an die Geschichte vom Einzug Jesu nach Jerusalem, als die Bürger der Stadt ihm zujubelten und ihm Palmzweige zu Füßen legten. „Die Besucher sollen hier im Garten einen einfachen Bezug zur Bibel bekommen, damit sie erkennen, wie nah diese Geschichten am Menschen sind“, sagt die leidenschaftliche Hobby-Gärtnerin.
Der Autorin und evangelischen Pfarrerin Katrin Stückrath zufolge sind Bibelgärten im Trend, weil sie mit allen Sinnen einen Zugang zur Bibel eröffnen. Bundesweit gibt es mittlerweile mehr als hundert dieser Gärten, weltweit etwa 500, sagt die Theologin aus dem westfälischen Lünen, die ein Buch über Bibelgärten geschrieben hat.
Dabei seien diese Gärten ein relativ junges Phänomen aus dem 20. Jahrhundert. Vorläufer waren die angelsächsischen botanischen Gärten des 19. Jahrhunderts, wo bereits Bibelpflanzen präsentiert wurden.
Der erste deutsche Bibelgarten wurde 1979 im Botanischen Garten in Hamburg gegründet. Im Jahr 1995 wurden auch auf der Bundesgartenschau in Cottbus Bibelpflanzen präsentiert. Als neues Thema sei in den vergangenen Jahren der interreligiöse Aspekt hinzugekommen, sagt Stückrath. So zeige die derzeitige nordrhein-westfälische Landesgartenschau in Bad Lippspringe einen „Glaubensgarten“, in dem sieben Religionen vertreten sind. Die Pfarrerin hat ein bundesweites Bibelgarten-Netzwerk gegründet. Alle zwei Jahre kommen Bibelgärtner aus ganz Deutschland zu einer Tagung zusammen.
Bei der Bundesgartenschau in Cottbus bekam auch Elke Stern die Idee für das Schöninger Projekt. Seit der Gründung im Jahr 1996 kommen regelmäßig Besuchergruppen in den Garten zwischen der Südseite des Kirchenschiffs und der Klostermauer. Manche kommen jedes Jahr wieder. Stummer Zeuge davon ist die Silberpappel. „Die habe ich zu Beginn als ganz kleinen Setzling gepflanzt.“ Mittlerweile reichen die Zweige fast bis ans Kirchendach.
An der Westseite des Gartens, der „Wüste“, setzt Stern sich für einen Moment auf die kleine Steinmauer. Eigentlich sei die Wüste ja leer und öde, räumt die Rentnerin ein. Um diese karge und ganz andere Landschaft für die Besucher erlebbar zu machen, hat sie ein paar Kakteen und eine Aloe-Vera-Pflanze angesiedelt. Den deutschen Winter überstehen diese Exoten draußen aber nicht. Daher improvisiert die Gärtnerin immer wieder. Ein paar Pflanzen bringt sie im November in der Kirche unter, viele auch in privaten Kellern. Nur mit Hilfe eines angestellten Gärtners lässt sich diese Arbeit im Bibelgarten schaffen.
Wer bei Stern eine geführte Wanderung durch den Garten verabredet, den führt sie vorbei an Flachs und Linsen, Tamariske und Granatapfel in eine ganz versteckte Ecke, ihren Lieblingsort. Ein trister Steinhaufen liegt vor ihr. Dazu ein Schild mit dem Bibelvers vom Stein und Sand: „Stein ist schwer, und Sand ist eine Last; aber der Ärger über einen Toren ist schwerer als beide“, liest sie laut vor und lächelt schelmisch: „Das lässt sich doch heute auf jeden anwenden, oder?“
Die nächste bundesweite Bibelgarten-Tagung findet vom 22. bis 24. Juni 2018 in Weltersbach statt.