Artikel teilen:

Palästinenser-Hilfswerk unter Druck

Die UN-Organisation für geflüchtete Palästinenser steht seit jeher als Akteurin und Spielball im Spannungsfeld des ungelösten Nahostkonflikts. Jetzt gerät sie tiefer in den Sog des Krieges.

Es ist ein schlimmer Verdacht: Israels Armee und der Geheimdienst Schin Bet erklärten am Wochenende, sie hätten in Gaza unter dem Hauptquartier des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) ein Tunnelsystem der Terrororganisation Hamas entdeckt – und Waffen in Mitarbeiterbüros. UNRWA-Einrichtungen, so Israel, könnten den Tunnel mit Strom versorgt haben. Erst vor zwei Wochen wurde der Vorwurf laut, UNRWA-Angehörige könnten an den bestialischen Hamas-Angriffen vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein.

UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini verwahrte sich gegen die jüngsten Anschuldigungen unter anderem mit dem Hinweis, das Personal habe das Hauptquartier angesichts der israelischen Bombardierungen und Evakuierungsanordnungen in Gaza schon am 12. Oktober geräumt. Nach Bekanntwerden des früheren Verdachts hatte Lazzarini die Betreffenden umgehend entlassen und eine Untersuchung eingeleitet. Dennoch antwortete Israels Außenminister Israel Katz mit herber Generalkritik: “Wir haben seit Jahren gewarnt: UNRWA verlängert das Flüchtlingsproblem, behindert den Frieden und dient als ziviler Arm der Hamas in Gaza.”

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen, zuständig für 5,7 Millionen palästinensische Geflüchtete in Nahost, ist israelischen Regierungen seit langem ein Dorn im Auge. Allein für Gaza weist der letzte UNRWA-Jahresbericht ein Gesamtbudget von 570 Millionen US-Dollar aus. Von den über 12.000 Mitarbeitern im Gazastreifen stammen gut 99 Prozent aus der örtlichen Bevölkerung. Damit die Hilfe funktioniert, arbeitet die Organisation mit der lokalen politischen Führung zusammen, also mit der Hamas.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warf dem Hilfswerk deshalb vor, von der Hamas “total unterwandert” zu sein, und forderte zuletzt dessen Abschaffung. Am Sonntag billigte der zuständige israelische Parlamentsausschuss laut Berichten einen Gesetzentwurf, der das Ende der UNRWA-Tätigkeiten in Jerusalem zum Ziel hat. Schon am Mittwoch soll er zur ersten Lesung ins Plenum kommen.

Zwar prangert UNRWA in ihren Jahresberichten regelmäßig Eingriffe der radikalen Islamisten in ihre Räumlichkeiten und Tätigkeiten an; umgekehrt werden aber auch immer wieder Anschuldigungen laut, die UN-Organisation überlasse ihre Strukturen politischen Akteuren der Palästinenser und mache sich zu deren Sprachrohr.

Ein besonderer Kritikpunkt betrifft die Schulen, die einen erheblichen Teil des UNRWA-Engagements ausmachen. Obwohl das Bildungssystem unter dem Patronat der Vereinten Nationen steht, sucht die De-facto-Regierung im Gazastreifen Einfluss auf Lehrpläne und Schulbücher – unter anderem mit der Vermittlung eines Feindbildes von Israel und den Juden. Seit Jahren bekommen UNRWA und deren Geldgeber, etwa die EU, deswegen gehörig Druck aus pro-israelischen Kreisen. Erst am 12. September 2023, also kurz vor dem Terrorangriff auf Israel, richteten mehrere Europaabgeordnete eine Anfrage an die EU-Kommission, was sie gegen diese Erziehung zu Antisemitismus unternehme.

Die enge Vernetzung mit ihrer Klientel ist Charakteristikum und Geburtsfehler der UNRWA. Als einzige Organisation der Vereinten Nationen wurde sie für eine spezifische Flüchtlingsgruppe in einer bestimmten Region gegründet. Sie sollte sich um die mehreren Hunderttausend Palästinenser kümmern, die im Zuge der Staatsgründung Israels und des Kriegs 1948 geflüchtet waren oder vertrieben wurden.

Mit Resolution 302 vom 8. Dezember 1949 gaben die Vereinten Nationen der neuen Agentur den Auftrag, in Zusammenarbeit mit lokalen Regierungen Hilfsprogramme umzusetzen und zugleich auf eine Zeit hinzuarbeiten, in der internationale Unterstützung nicht mehr nötig sein würde. Es ging demnach um Integration der Palästinenser in die Aufnahmeländer – was wiederum in Spannung zu UN-Resolution 194 steht: Diese räumt den Geflüchteten ein Recht auf Rückkehr beziehungsweise Entschädigung ein.

Ein solches Recht sieht das israelische Recht für Israelis vor, die im 1948er Krieg verlorenes Land selbst dann einklagen können, wenn sie keine persönlichen Bindungen daran haben. Palästinensern bleiben jegliche Rückforderungsrechte im israelischen Rechtssystem versagt.

Während die Palästinenserfrage politisch ungelöst blieb, hatte UNRWA mit dem Mandat humanitärer Hilfe kaum mehr als die Rolle eines Lückenbüßers; offiziell der Neutralität verpflichtet, bewegte sie sich seit jeher in einem hoch politisierten Feld widerstreitender nationaler Interessen. Dass die Projektfinanzierung auf staatlichen und privaten Spenden beruht, setzt UNRWA zusätzlichen Abhängigkeiten aus und verhindert teilweise langfristige Planung.

Neben dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR bildet UNRWA eine Art Sonderabteilung. Die Sache hat einen Pferdefuß: Aufgrund einer völkerrechtlichen Klausel fallen Personen, die unter dem Schutz einer anderen Organisation als UNHCR stehen, aus der Zuständigkeit der Genfer Flüchtlingskonvention heraus. Das hat Folgen für die Möglichkeit, in anderen Staaten Asyl zu beantragen – und macht die Frage einer Auflösung von UNRWA, wie sie von manchen Kritikern gefordert wird, wiederum zu einem politisch heiklen Thema.

In dem Zusammenhang befasst sich derzeit auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg mit dem Problem, ob Palästinenser einen Schutzanspruch in der EU haben könnten, wenn UNRWA-Strukturen in Gaza faktisch nicht mehr funktionieren. Das Hilfswerk selbst steckt unterdessen in einer ähnlich unbequemen Lage wie die Gemeinschaft, für die es verantwortlich ist.