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Packendes Drama über den Widerstand der Frauen im Iran

Thriller um einen iranischen Juristen, der während der Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini auch von seinen Töchtern Widerspruch erfährt und sich in immer drastischere Aktionen gegen seine Familie hineinsteigert

“Tschechows Gewehr” ist hier eine Pistole und wird gleich in der ersten Szene eingeführt: Der Ermittlungsrichter Iman hat sie neben sich auf dem Beifahrersitz liegen, während er alleine durch die Nacht unterwegs ist. Die Waffe hat er nach einer Beförderung erhalten. Als Teil des iranischen Justizapparats ist er nun auch dafür zuständig, Todesurteile zu unterschreiben. Das Regime bewaffnet seine Schergen, zum Schutz ihrer Familien, wie Iman seiner Frau Najmeh erklärt.

Die Regel von “Tschechows Gewehr” besagt, dass ein prägnantes Objekt wie etwa eine Pistole nur dann in eine Geschichte eingeführt werden soll, wenn ihm später eine wichtige Bedeutung zukommt. “Die Saat des heiligen Feigenbaums” von Mohammad Rasoulof erfüllt diese Regel nicht nur; er übererfüllt sie sogar.

In einer weiteren Schlüsselszene sitzen Imams Töchter Rezvan und Sana im Wohnzimmer vor dem Fernseher, in dem über die Proteste berichtet wird, die nach dem Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini in einer Polizeistation überall im Iran ausgebrochen waren. Die Nachrichtensprecherin redet über Chaoten ohne Achtung vor Recht und Gesetz.

Rezvan und Sana schauen nicht auf den Fernsehbildschirm, sondern auf ihre Handys. In den sozialen Medien verbreiten sich ganz andere Bilder. Zeugen filmen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte: heftige Schlagstockattacken gegen Unbewaffnete, Menschen, die auf offener Straße in Kleinbusse gezerrt werden, regungslose Gestalten in Blutlachen.

Schon bevor sich der innerfamiliäre Konflikt zuspitzt, ist das Thema des Films gesetzt: Die alten Hierarchien gelten nicht mehr. Im Folgenden fallen Vater und Staat in eins. Der Film transportiert die gesellschaftlichen Konflikte, die den Iran bereits seit der Gründung der Islamischen Republik 1979 prägen und die seit 2002 immer wieder gewaltsam auf den Straßen ausgefochten werden, in eine Familie der islamistischen Führungsschicht hinein. Am Donnerstag wurde der deutsche Spielfilm bei den Oscars für die Vorauswahl für den besten internationalen Film nominiert.

“Die Saat des heiligen Feigenbaums” ist geschickt konstruiert, weil die Spannungen in der Familie sich zunächst an normalen alltäglichen Situationen entzünden. Sana möchte eine schickere und auch körperbetonte Schuluniform. Die Mutter mag die Freundin der älteren Tochter Rezvan nicht, der Vater bleibt bis spät abends im Büro und hat kaum Zeit für seine Kinder.

Doch bald schleicht sich ein paranoider Unterton in die Auseinandersetzungen. Der Vater darf seiner Familie keine Details über seine Arbeit erzählen. Die Mutter wiederum, die als Vermittlerin zwischen Mann und Töchtern unter großem Druck steht, bittet Sana und Rezvan, es mit den Kleidungsvorschriften und bei den sozialen Kontakten besonders genau zu nehmen.

Die Konstellation polarisiert sich zusehends. Sana und Rezvan beziehen angesichts der Schreckensbilder auf ihren Handys immer offener Stellung gegen ihren Vater, der die Werte der Islamischen Republik predigt; aber auch gegen ihre vor allem um die Privilegien besorgte Mutter.

Zu einer ersten Konfrontation kommt es, als Rezvans Freundin nach einer Demonstration blutüberströmt in der Wohnung der Familie Zuflucht sucht. Die zweite und deutlich dramatischere bringt dann die Pistole ins Spiel.

Genauer gesagt ist die Pistole plötzlich verschwunden. Iman, dem deshalb ein herber politischer Rückschlag und womöglich sogar juristische Konsequenzen drohen, sieht sein Lebenswerk gefährdet. Beim Versuch, seine Haut zu retten, zieht er seine eigene Familie mit in den Abgrund.

Irgendwann brechen alle Dämme. Die Handlung verlagert sich vom urbanen Teheran, in dem die Radikalen die westliche Moderne nie ganz verdrängen konnten, in ein Anwesen in der Provinz. Zu einem waschechten Thriller wandelt sich “Die Saat des heiligen Feigenbaums” erst in der letzten halben Stunde. Das Finale ist ein ausgesprochen intensives Stück Kino.

Es gibt noch einen weiteren Bruch im Film: den zwischen der Spielhandlung und den Handybildern der Proteste. Immer wieder lässt der im Frühjahr aus dem Iran geflohene Rasoulof die staatskritischen Amateuraufnahmen in die Filmgeschichte eindringen. Beide Stränge sind nicht miteinander kompatibel.

In der Spielhandlung steht “Die Saat des heiligen Feigenbaums” in der Tradition des iranischen Autorenfilms, wie er sich seit den 1990er-Jahren international etabliert hat: realistisch konzipierte Figuren, psychologisch nuanciertes Schauspiel, gesellschaftlich relevante Themen, die in metaphorische Erzählungen verpackt sind. Ein Kino, das für einen Kompromiss steht, den die Autorenfilmer mit dem Regime geschlossen hatten. Sogar soziales Engagement war erlaubt. Im engeren Sinne kritisch durfte es aber nie zugehen.

Der in Hamburg lebende Rasoulof aber kündigt diesen Kompromiss durch die Handybilder auf. Insofern ist “Die Saat des heiligen Feigenbaums” nicht nur eine politische Anklage, sondern auch ein Film, der gewissermaßen seine eigenen Bilder kritisiert.