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Österreich hat eine neue Regierung

Nach der längsten Regierungsbildung seit dem Zweiten Weltkrieg nimmt Österreichs erste Dreierkoalition ihre Arbeit auf. Kritiker wittern Chaos – Befürworter die Chance auf eine neue politische Kultur.

Sie hatten sich strikt geweigert, ihre Gespräche als Regierungsverhandlung zu bezeichnen – und doch steht am Ende eine Koalition: In Österreich ist am Montag die neue Regierung aus Volkspartei (ÖVP), Sozialdemokraten (SPÖ) und NEOS durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen vereidigt worden. Es war die längste Regierungsbildung seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Noch am Sonntag musste die erste Dreierkoalition Österreichs ihre letzte Hürde überwinden. Gemäß ihren Statuten unterzogen die NEOS die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien einer Mitgliederbefragung: Mehr als 1.500 Parteiunterstützer konnten faktisch von der Couch aus via Mobiltelefon über die künftige Regierung entscheiden; 94 Prozent stimmten dafür. Die wirtschaftsliberale Partei war 2012 gegründet worden, um den “Stillstand” der ÖVP-SPÖ-Koalitionen zu brechen. NEOS-Chefin und neue Außenministerin Beate Meinl-Reisinger gab sich vor einem vollen Saal kämpferisch: “Schreiben wir Geschichte heute!”

“Kompromiss” war das Schlagwort der vergangenen Tage. Oder wie ÖVP-Chef und Neu-Bundeskanzler Christian Stocker es formulierte: Die Koalition sei einem “zutiefst österreichischem Grundsatz” zu verdanken: “Durch’s Reden kommen die Leute zusammen.” Tatsächlich war es für die – wegen ihrer bunten Mischung – sogenannte “Zuckerl-Koalition” der zweite Anlauf. Die ersten Verhandlungen zwischen den drei Parteien waren zu Jahresbeginn geplatzt. Danach ging der Regierungsbildungsauftrag an die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die die Wahl im September mit knapp 29 Prozent gewonnen hatte. Drei Wochen lang sah es so aus, als bekäme Österreich mit FPö-Chef Herbert Kickl erstmals seit Wiedererlangung der Demokratie einen Rechtspopulisten als Regierungschef. Doch auch die Verhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP scheiterten.

Nun also eine Notlösung? Dazu schrieb die Tageszeitung “Der Standard” am Wochenende: “Im zweiten Anlauf zueinandergefunden hat das Trio aus einer konservativen, einer linken und einer liberalen Partei nicht, weil es so viele gemeinsame Vorstellungen über die Zukunft gäbe, sondern aus Mangel an Alternativen.” Mit Spannung werde nun erwartet, ob die Kompromisse des “Notbündnisses” auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hinauslaufen. Oder ob deren Pläne mehr Mut, Entschlossenheit und Reformkraft vereine, als es die Konstellation erwarten lasse.

Bereits vorige Woche stellten die Parteichefs ihr gemeinsames Regierungsprogramm vor. Die prominenteste Rolle hat darin der budgetäre Rotstift, schließlich gilt es ein schuldenbedingtes EU-Defizitverfahren zu verhindern. Dieses Jahr sollen 6,3 Milliarden Euro eingespart werden. Auch in Sachen Asyl und Migration plant die Dreierkoalition Reformen: Für Unter-14-Jährige soll künftig ein Kopftuchverbot gelten, der Familiennachzug werde ausgesetzt, Migranten sollen ein verpflichtendes Integrationsprogramm “ab dem ersten Tag” durchlaufen. Daneben will man verstärkt gegen Extremismus vorgehen. Um Radikalisierung in Sozialen Medien vorzubeugen, sollen junge Österreicher künftig kostenlosen Zugang zu Qualitätsmedien erhalten.

Die Asylagenda trägt die Handschrift der ÖVP. Doch auch die Handschrift der anderen Regierungspartner ist im Regierungsprogramm deutlich erkennbar: Im Fall der SPÖ etwa in Form einer Mietpreisbremse, die NEOS wiederum machen sich traditionell im Bereich Schule und Ausbildung stark – ab Montag erstmals mit einem NEOS-Bildungsminister. Angesichts der augenscheinlichen Harmonie ätzten Kritiker am Wochenende: Jeglichen Streit, etwa über eine Erbschaftssteuer oder weitere Sparmaßnahmen, hätten die Parteien auf später verschoben.

Und die Rechtspopulisten der FPÖ? Sie sitzen – obwohl Wahlsieger – inzwischen wieder fest auf der Oppositionsbank. Gerhard Karner, der in der neuen Regierung Innenminister bleibt, warfen sie nun vor, den jüngsten Terroranschlag von Villach mit einem Toten “unter den Teppich zu kehren”. Überhaupt ist FPÖ-Chef Kickl überzeugt: “Das von ÖVP, SPÖ und NEOS präsentierte Regierungsprogramm ist eine einzige Kapitulation vor dem Wählerauftrag zur echten Erneuerung.”

Einen anderen Blick auf die Lage hat die Zeitung “Die Presse” – zumindest, was den neuen Bundeskanzler angeht. Zwar fehle ihm die Strahlkraft eines Ex-Kanzlers Sebastian Kurz, stattdessen stehe er für Ordnung. “Stocker verkörpert vergessene österreichische Routinen: Kompromiss und Konsens.”