Viel „Unordnung und böse Wirtschaft“ prägten schon die Jugend von Friedrich Mergel, Hauptfigur der Novelle „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff. Damit scheint sein tragischer Werdegang in dem „Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen“ – so der Untertitel – schon vorgezeichnet. Doch lässt sich die Novelle nicht nur als schaurige Schicksalsgeschichte, sondern auch als Milieustudie oder religiöse Moralerzählung lesen. Auch dank dieser Vielschichtigkeit gelang der Autorin mit dem Werk der literarische Durchbruch. Vor 175 Jahren, vom 12. April bis 28. Mai 1842, erschien „Die Judenbuche“ erstmals im „Cotta‘schen Morgenblatt für gebildete Leser“.
In die Rinde geritzte Prophezeiung
Erzählt wird die Geschichte des im „Dorfe B.“ geborenen Friedrich Mergel, Sohn des heruntergekommenen Bauern Hermann und der einst stolzen Dorfschönheit Mar-greth. Als Fritz neun Jahre alt ist, erfriert der sturzbetrunkene Vater in einer Sturmnacht um Dreikönig; der schüchterne Junge wächst allein bei der schwermütigen Mutter auf. Eine Wendung nimmt sein Leben, als ihn Margreths Bruder Simon Semmler, „ein unheimlicher Geselle“, unter seine Fittiche nimmt. Fritz übernimmt öfter zweifelhafte „Aufträge“ für ihn und wird ihm immer ähnlicher. Als eine Art Doppelgänger Friedrichs tritt Johannes Niemand auf, wohl unehelicher Sohn Simons.
Bei einer Hochzeitsfeier fordert der jüdische Altwarenhändler Aaron von Friedrich öffentlich zehn Taler für eine Uhr. Tage später wird Aaron erschlagen unter einer Buche gefunden; Friedrich flieht vor seiner Verhaftung. Die Juden kaufen die Buche und ritzen einen hebräischen Spruch in die Rinde. 28 Jahre später kehrt er nach B. zurück und wird kurz darauf erhängt in der Judenbuche gefunden. Erst am Ende enthüllt die Autorin, was die hebräische Inschrift bedeutete: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hat.“
Die Droste schrieb die gut 50 Seiten umfassende Novelle zwischen 1837 und 1841 in ihrer westfälischen Heimat bei Münster. Dort wurde sie 1797 auf dem Wasserschloss Burg Hülshoff als Spross katholischen Adels geboren. Als Siebenmonatskind blieb sie ihr Leben lang kränklich. Ihr früh erwachtes Interesse an Literatur und Musik konnte die hochgebildete junge Frau nie ungehindert ausleben.
Der Stoff für die „Judenbuche“ basiert auf einer wahren Begebenheit, von der sie bei ihren Verwandten auf dem ostwestfälischen Schloss Bökerhof erfuhr. Die Dichterin verändert Daten und Ereignisse leicht, gibt aber treulich Jahreszahlen an, als handle es sich um den Zeugenbericht einer Kriminalgeschichte. Dabei sorgt der mal subjektive, mal allwissende Erzähler mit häufigen Andeutungen für Verwirrung.
Vergebung, Verdammnis, Schuld und Sühne
Ebenso bewegt sich die Erzählung im religiösen Wertekosmos, dem die Autorin entstammt. So spielen Moral und Unrecht, Schuld und Sühne, Vergebung und Verdammnis eine große Rolle. Gerade die Mutter betet viel und hält auch den Sohn dazu an. Auch werden Bibelverse zitiert, und der Kalender richtet sich nach dem Kirchenjahr. Als Friedrich zur Beichte gehen will, hält ihn der Onkel, der als geradezu teuflisch geschildert wird, davon ab. Und Friedrich, der durch eigene Hand starb, wird nicht in der geweihten Erde des Friedhofs, sondern „auf dem Schindanger ver-scharrt“.
Auch die Judenfeindlichkeit skizziert die Autorin als Teil ihrer Milieustudie des Dorfes B. Juden werden als Schelme und Betrüger beschimpft, Recht steht ihnen nicht zu. Einer ausdrücklichen Bewertung enthält sich die Autorin jedoch. Doch das Schicksal des Dorfes spricht für sich.
Ursprünglich sollte die zwischen Spätromantik, Biedermeier und Realismus changierende „Judenbuche“ in den Zyklus „Bei uns zu Lande auf dem Lande“ einfließen, der jedoch Fragment blieb. Besondere Aufmerksamkeit erlangte das Werk durch die Aufnahme in den Novellenschatz von Paul Heyse, über 20 Jahre nach dem Tod der Dichterin. Heute erinnert nahe der Ortschaft Bökendorf ein „Droste-Stein“ an die Dichterin der „Judenbuche“, den der Kreis Höxter ihr gewidmet hat.
Wie beengt sich Annette von Droste-Hülshoff in ihrem Leben gefühlt haben muss, veranschaulicht das Gedicht „Am Turme“ von 1842 sehr gut. Heute hängt ein Faksimile der Handschrift in der Meersburg am Bodensee, wo sie mit nur 51 Jahren am 24. Mai 1848 starb. „Wär‘ ich ein Jäger auf freier Flur, ein Stück nur von einem Soldaten, wär‘ ich ein Mann doch mindestens nur, so würde der Himmel mir raten; nun muss ich sitzen so fein und klar, gleich einem artigen Kinde, und darf nur heimlich lösen mein Haar und lassen es flattern im Winde!“