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Neue “Dirty Little Secrets”-Doku über die Gefahren des Alkohols

Die ARD-Dokumentation “Warum wir immer weiter trinken” aus der Reihe “Dirty Little Secrets” deckt auf, was eigentlich alle wissen, aber ungern thematisiert wird: Alkohol ist lebensgefährlich. In jeder Dosis.

Wer von diesem Hype nichts mitbekommen hat, lebt entweder im Bierzelt, am Limit oder auf dem Mond: Wir schreiben nicht Januar, es heißt jetzt “Dry January”. Ein trockener Monat also, der zwar nach fünfter Jahreszeit klingt, dem karnevalistischen Kollektivbesäufnis aber kaum ferner sein könnte. Vom finnischen Kriegswinter 1942 aus hat er sich über ein englisches Abstinenz-Programm der 2010er-Jahre in die Mehrheitskultur vorgearbeitet, wo viele auch Anfang 2025 etwas Ungewöhnliches machen: 31 Tage auf Alkohol verzichten.

Für Großteile der Bevölkerung klingt das vergleichsweise einfach. So wie niemand der Stau ist, sondern im Stau steht, mögen ja andere abhängig sein, aber man selbst? Trinkt gerne mal ein Gläschen, kein Problem. Kein Problem? Mit diesem Mythos räumt eine neue Dokuserie in der ARD-Mediathek auf. “Warum wir immer weiter trinken” ist weder die erste noch letzte ihrer Art. Wer allerdings einen Einstieg in den Ausstieg sucht, wird darin dreimal dreißig Minuten lang auf leichtfüßige Art fündig.

Wie im ersten Teil der BR-Reihe “Dirty Little Secrets”, die im Mai den schmutzigen Geheimnissen der Musikindustrie nachspürte, begibt sich das fünfköpfige Team um Julia Schweinberger jetzt zum Abgrund der Alkoholindustrie. Allerdings nicht nur, wie im Fernsehen üblich, als Aneinanderreihung recherchierter Erkenntnisse plus O-Tönen ausgewiesener Experten. Zusätzlich bittet Schweinberger fünf betroffene Frauen zur Talkrunde über ein Tabuthema, das praktisch alle betrifft.

Zur früheren Viva-Moderatorin Sarah Kuttner setzen sich eine Lifestyle-Journalistin, eine Sachbuch-Autorin, eine Weingut-Betreiberin und ein als “It-Girl” eingeführte Popart-Künstlerin. Alle haben im Schnitt mit 14 erste Trinkerfahrungen gemacht. Der aktuelle Konsum reicht von neun Jahre nüchtern bis vorgestern besoffen. Durch diese Bandbreite sorgt der Stuhlkreis für etwas, das Information zu Infotainment macht: Er ist buchstäblich unterhaltsam und passt daher perfekt in ein Format, das alles Mögliche will. Außer langweilen. Die Fakten der Doku sind schließlich schon deprimierend genug.

Dass jeder und jede Deutsche – inklusive Minderjähriger – statistisch Jahr für Jahr fast zwölf Liter reines Ethanol verteilt auf umgerechnet 131 Flaschen Wein pro Person trinkt, ist ein skandalöser Fall von einhelliger Selbstvergiftung. Über den die seriöse Wissenschaft seit Jahrzehnten aufklären könnte – wenn man sie denn ließe. Doch je genauer Schweinbergers Redaktion hochprozentige Mythen vom kardiologisch ratsamen Wein bis zum verdauungsfördernden Schnaps widerlegt, desto deutlicher wird, wie die brauende, brennende, kelternde Wirtschaft mithilfe der – angeblich konservativen – Politik Studien uminterpretiert, also Menschen belügt.

Es gehe, sagt Schweinberger im Umfeld poppig kompilierter Archivaufnahmen und nachgestellter Spielszenen, “um Seilschaften, Machtspiele und sehr viel Geld”. Oder wie ein Zusammenschnitt verschwitzter Bierzelt-Parolen sehr verniedlichend ausgedrückt, um deutsches Kulturgut. Da ist es kein Wunder, wenn das langjährige Leitmedium Fernsehen ganz in dessen Sinn agiert. Laut einer Studie des Bundesgesundheitsministeriums über das TV-Jahr 2018 wurde in 96 Prozent der untersuchten Fernsehfilme und in drei von fünf Serienfolgen Alkohol getrunken, was nur in jeder zehnten in irgendeiner Weise auch thematisiert wurde.

Während bereits ein halbes Glas Bordeaux toxikologisch hochriskant ist, gilt die dreifache Dosis beim Kochen immer noch als kultiviert und selbst das vierte Feierabendbier als gesellig. Kein Wunder, dass “Tatort”-Kommissare nach dem nächsten gelöstem Fall zur Primetime entspannt zwei Halbe mit Rheinblick kippen, während Nora Fingscheidts wichtiges Entzugsdrama “The Outrun” nach kurzer Nischenkino-Auswertung bestenfalls bei Arte läuft.

Die ARD mag eine alkoholabhängige Irin unlängst zur Hauptfigur der tragikomischen Gesellschaftssatire “The Dry” gemacht haben. Weil sie digital oder nachts lief, hat es leider kaum jemand gesehen. Es gibt inzwischen zwar nicht nur diverse Podcasts mit “Sober” im Titel, die immer mehr abstinente Promis von Pamela Reif bis Matthias Schweighöfer einladen. Trotzdem bleibt das volkswirtschaftlich lukrative Märchen vom gesunden Maß “geistiger Getränke” tief im medialen Mainstream verwurzelt.

Für übermäßigen Konsum sind der Legende nach nämlich weder Staat noch Hersteller, sondern allein die Kundschaft verantwortlich – inklusive der jährlich 74.000 toten Alkoholiker, von Opfern Besoffener im Straßenverkehr und Schlafzimmer ganz zu schweigen. Auch davon erzählt “Dirty Little Secrets” in der ARD-Mediathek.

Eigenes Bier zu brauen – das ist ab 2025 übrigens bis zu 500 statt bis zu 200 Litern steuerfrei, während die Legalisierung des toxikologisch harmloseren Cannabis nach der kommenden Bundestagswahl wohl wieder fallen dürfte. Ein Prosit der gemütlichen Scheinheiligkeit.