Seit einigen Jahren schon liefern zunehmend Künstlerinnen zentrale Beiträge der Kunstbiennale in Venedig. Das Thema ihrer 60. Ausgabe – „Überall Fremde“ – spricht viele von ihnen offenbar unmittelbar an. Etliche wichtige und beachtete Länderpavillons wurden von Frauen gestaltet. Die am 20. April eröffnete 60. Internationale Kunstausstellung in Venedig läuft noch bis 24. November.
Die gebürtige Russin und Konzeptkünstlerin Anna Jermolaewa, 1989 vor dem KGB nach Österreich geflohen und nunmehr dessen Biennalevertreterin, spricht klug durch die Blume: Ihre Fluchterfahrung – sie ließ gar originale Telefonzellen aus dem Flüchtlingslager nach Venedig schicken – kontrastiert sie mit politischen Umbrüchen. Dazu arrangiert sie in Vasen Blumen, die Revolutionen ihren Namen gaben wie Nelken in Portugal oder Tulpen in Kirgistan. Zusammen mit der Ukrainerin Oksana Serheieva münzt sie Russlands Strategie, in bestimmten Momenten die Volksseele mit „Schwanensee“ im Fernsehen zu besänftigen, in einen subversiven Aufruf zum Regimewechsel um.
Im türkischen Pavillon hat die 78-jährige Gülsün Karamustafa eingerüstete Architekturformen aufbauen lassen – Verweise auf ein Erdbeben oder ein politisches Beben? Spanien wird erstmals von einer Ausländerin vertreten: Die Peruanerin Sandra Gamarra Heshiki beschäftigt sich in ihrer „Migrantengalerie“ mit kolonialen Narrativen.
Der saudischen Künstlerin Manal Al-Dowayan geht es in ihrem Beitrag um die Stärkung der Saudi-Arabierin: In der Installation „Shifting Sands“ werden symbolische Sanddünen Reservoir für bestimmte (Schlag-)Worte. „Von Alters her haben saudische Frauen eine Stimme, die gehört wird“, sagt Kuratorin Maya Al Khalil, „gerade auch in Kriegszeiten“. Wie es in der Realität mit den Rechten und der Mitsprache von Frauen in dem Land aussieht, steht auf einem anderen Blatt Papier.
„Wir brauchen mehr Waffen, wir wollen nicht untergehen“, betont Lia Dostlieva eindringlich im ukrainischen Pavillon. Sie zeigt sarkastischen Humor, nimmt Schauspiel-Castings auf die Schippe, wo ukrainische Geflüchtete gemimt werden – Opfertyp oder Sexsymbol – wie Medien oder Werbung sie darstellen.
Die gebürtige Moskauerin Irina Eldarova steigt für Aserbaidschan in den Ring, ironisiert im filmischen Werk und in Malerei die Macht des US-Kinos und den Marilyn Monroe-Kult. Für den deutschen Pavillon entwarf die Israelin Yael Bartana scheinbar eine Version von Raumschiff Orion. Tatsächlich geht es um – utopische – Zukunft. Das virtuelle Fluggerät der Erlösung hebt ab vor dem Hintergrund kabbalistischer Überlieferung.
Von einer Flut „typisch weiblicher Positionen“ auf der Biennale kann man aber nicht sprechen. „Für manche ist die Identifizierung mit einem Geschlecht wichtig für die eigene künstlerische Praxis, bei anderen ist sie untergeordnet oder spielt gar keine Rolle“, sagt Cagla Ilk, Kuratorin des deutschen Beitrags, dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Den deutschen Pavillon, wo die Arbeiten der Künstlers Ersan Mondtag und der Künstlerin Yael Bartana gleichberechtigt nebeneinander zu sehen sind, habe sie nicht mit Blick auf Geschlechtsproporz oder „identitäre Merkmale“ kuratiert. Es gehe vielmehr um die „Auseinandersetzung mit Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen“.
Die Arbeit „M(otherland)“ im Israel-Pavillon, den drei Soldaten bewachen, scheint freilich ein klassisches Frauenthema durchzuspielen. Doch die Künstlerin Ruth Patir schließt ihn aus Solidarität mit den Hamas-Opfern nicht auf, der dadurch nicht zugänglich ist.
Kanadas Vertreterin Kapwani Kiwanga präsentiert Kolonialgeschichte zum Greifen: Vorhänge aus sieben Millionen Glasperlen, jener Währung, mit der einst Indigene betört wurden. Kaum je zuvor präsentierte eine Biennale so dichtmaschig Stickereien, Patchwork, Perlen und bunte Bänder – klassischerweise mit weiblicher Handarbeit assoziiert. Indes: Die Materialien stehen im Kontext der Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratisierung.
Kunst sei heute „extrem politisch korrekt“, sagt die Berliner Galeristin Lena König, die mit ihrem Mann Johann 2019 die deutsche Biennaleteilnehmerin betreute: Natascha Sadr Haghighian. Migrantische Perspektiven, die im deutschen Pavillon jetzt Ersan Mondtag eindrucksvoll ausbreitet, fokussierte die Iranerin schon damals.
Im Kern weiblich wird es bei den Maori-Frauen. Das Kollektiv Mataaho Collective bekam den Goldenen Löwen in der Kategorie „bester Künstler“. Die Jury lobt „matrilineare Textiltraditionen“ und die „gebärmutterähnliche Wiege“: eine subtile gewebte Struktur an der Schwelle zur Abstraktion. Diese Biennale ist eine Feier indigener Kulturen, mit dem Anliegen, ihnen eine Stimme zu geben, und sie ist wachsam bezüglich Repressionen und Frauenrechten. Der vom Kurator Adriano Pedrosa gewählte Biennaletitel „Überall Fremde“ geht zurück auf Claire Fontaine, ein unter weiblichem Kunstnamen auch kapitalismuskritisch agierendes Kollektiv. Das kann der Kunstbetrieb gut vertragen.