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Musikhistorikerin: Beethovens Neunte warb für “Ewigen Frieden”

Vor 200 Jahren schrieb Beethoven mit der Wiener Uraufführung seiner “Neunten” Musikgeschichte. Deren politische, historische und theologische Interpretation dauert bis heute an.

Zum 200. Jahrestag von Beethovens Neunter Symphonie betont die Musikhistorikerin Birgit Lodes die aufgeklärte Haltung des Komponisten. Es gehe ihm darum, dass man “als reflektierender Mensch eine persönliche Beziehung zu Gott aufbauen soll”, sagte die Wiener Professorin im Interview der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (Freitag).

Für Ludwig von Beethoven (1770-1827) sei nicht wichtig wie für Anton Bruckner, “soundso viele Ave Maria oder Vaterunser herunterzubeten”, sondern den eigenen Verstand zu gebrauchen und so einen Bezug zu Gott zu finden, so Lodes. Der These von einer “kryptoprotestantischen Frömmigkeitspraxis beim Katholiken Beethoven” widerspricht die Historikerin nicht. Die Kirche und ihre Hierarchie seien Beethoven nicht wichtig gewesen.

Als Beethoven am 7. Mai 1824 seine Neunte Symphonie zur Uraufführung brachte, kombinierte er das Stück mit seiner Ouvertüre “Zur Weihe des Hauses” und drei Ausschnitten seiner Missa solemnis. Diese Konstellation stellt Martin Haselböck am 6. und 7. Mai in der Stadthalle Wuppertal gemeinsam mit der Wiener Akademie und dem WDR Rundfunkchor in Kooperation mit dem Beethoven-Haus Bonn nach.

Von der nachgestellten Uraufführung in Wuppertal verspricht sich die Historikerin eine “Bereicherung unserer eigenen Hörgewohnheiten, weil die Neunte in der Rezeptionsgeschichte unglaublich mit Bedeutung aufgeladen wurde und immer wieder aufgeladen wird”.

Sie sei sicher: “Das Finale der Neunten Symphonie hätte Beethoven nie so komponiert ohne die Erfahrungen aus der Missa solemnis.” Die Werke seien unmittelbar hintereinander entstanden. “Egal, ob man jetzt an die Kriegssymbolik und die Visionen, gar die Utopien des Friedens, der Freude denkt, an die Fugenkompositionen oder an bestimmte Verfahren der Textbehandlung – die Neunte setzt einfach die Erfahrung der Missa voraus”, sagt Lodes.

Die Musikwissenschaftlerin widerspricht damit der Behauptung Theodor Adornos, dass die Missa solemnis verbindungslos zum Rest von Beethovens Gesamtwerk stehe. Sie betont: “Wir hören zu sehr in Werkgattungen: hier die neun Symphonien, dort die zwei Messen, die dann ganz monolithisch begriffen werden.”

Besonders im Gloria und im Credo der Missa spiele “das Bewegtsein des niederen Menschen von der Ahnung Gottes eine große Rolle”, so die Historikerin. Auch später gehe immer wieder “der ahnende Blick zum christlichen Gott oder zum übergeordneten göttlichen Prinzip über den Sternen”. Das finde man in der Neunten wieder an Stellen wie “und der Cherub steht vor Gott” oder “überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen”.

Die Parallelen würden offenkundig, meint Lodes, “wenn man das Finale der Neunten vergleicht mit dem Agnus Dei der Missa und der doppelten ‘Bitte um inneren und äußeren Frieden’, wie Beethoven schreibt”. Dort breche “die Kriegsmaschinerie ins Messordinarium ein”.

Die Musikhistorikerin vermutet unter Verweis auf Beethovens Nachlass, seine Briefe und sein Tagebuch, dass das Konzertprogramm vom 7. Mai 1824 auch eine politische Dimension gehabt habe und die Ordnung Europas nach dem Wiener Kongress widerspiegele. Eine regelrechte Werbemaschinerie habe im Vorfeld “den vaterländischen Charakter des Konzerts” betont, um “der fremdländischen Kunst die Stirn zu bieten”; gemeint war die Rossini-Mode der Zeit. “Der Besuch dieses Konzerts wurde zur vaterländischen Pflicht erklärt”, so Lodes.

Beethoven habe Widmungen an Angehörige von Herrscherhäusern jener drei Mächte veranlasst, die im Zuge des Wiener Kongresses 1814/15 die “Heilige Allianz” für einen Ewigen Frieden in Europa geschlossen hatten. Die neunte Symphonie widmete er dem protestantischen König Friedrich Wilhelm III. von Preußen; die Missa solemnis dem Erzherzog Rudolph, einem Mitglied der katholischen Kaiserfamilie Österreichs, und die Ouvertüre “Zur Weihe des Hauses” dem russisch-orthodoxen Fürsten Nikolaus Galitzin. “So ganz zufällig scheint mir das nicht zu sein”, sagte Lodes der FAZ.