Bei demenzkranken Menschen erlischt allmählich die Erinnerung. Doch die Hits ihrer Jugend sind oft noch gut im Gedächtnis verankert. Musiker aus Hannover spielen ihnen diese Lieder vor – und lassen Erinnerungen wieder lebendig werden.
Wunstorf. Frau S. ist gut drauf. Sie erhebt sich vom Stuhl, neben dem sie den Rollator geparkt hat, schnappt sich ihren Gehstock und tänzelt im Rhythmus der Musik zur Terrasse. Dort swingt die Band vom Team „Klang und Leben“ gerade einen alten Hit: „Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann.“ Ein Schlager von Trude Herr aus dem Jahr 1960. Sänger Oliver Perau hat ihn angestimmt, begleitet von Pianist und Schlagzeuger.
Perau (52) gründete 1988 die Rock-Band „Terry Hoax“. Seit zehn Jahren singt er auch abseits des Rampenlichts: in Alten- und Pflegeheimen. „Wir wollen zeigen, dass man mit Musik unglaublich viele erreichen kann – auch Menschen, die dement sind“, sagt er. Im Diakonie-Seniorenzentrum „Haus am Bürgerpark“ in Wunstorf bei Hannover haben sich an diesem Tag bis zu 50 alte Menschen zum Konzert versammelt. Fast alle sind über 80.
Von Lale Andersen bis Udo Jürgens
Dass die Musiker gezielt für ältere Menschen spielen, hat einen wissenschaftlichen Hintergrund. Forscher der Musikhochschule Hannover haben herausgefunden, dass Musik-Erlebnisse aus der Jugend sehr tief im emotionalen Gedächtnis gespeichert sind. Demenzkranke werden aktiviert, wenn sie die Musik hören, die für sie früher bedeutend war. Sie können dann Gedächtnisinhalte wieder reproduzieren. Wenn man ihnen dann ein Fotoalbum zeigt, können sie auch wieder Namen benennen, die sie zuvor vergessen hatten.
Deshalb packen Sänger Oliver Perau, Drummer Karsten Kniep und Keyboarder Andreas Meyer im „Haus am Bürgerpark“ einen alten Schlager nach dem anderen aus. Etwas nostalgisch „Die kleine Kneipe in unserer Straße“ von Peter Alexander, etwas rockig „Aber bitte mit Sahne“ von Udo Jürgens. Und mit Jazz-Feeling „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“ von Bill Ramsey. Auch „Lili Marleen“ von Lale Andersen aus dem Jahr 1939 ist natürlich dabei. Doch auch altbekannte Kirchenlieder können eine solche Wirkung haben.
Sänger Oliver gibt alles: Er tanzt mit dem Mikrofon zwischen den Tischen und Stühlen und seine Späße. „Ich habe mal mit einer 104-Jährigen getanzt“, erzählt er im Stil eines Entertainers. „Und ein Jahr später sogar mit einer 105-Jährigen.“ Die Pointe: Es war beide Male dieselbe Frau. Gelächter im Publikum. Aber die Story ist wahr. Die Dame starb schließlich mit 109.
Nur ein Teil der Bewohner im „Haus am Bürgerpark“ leidet unter Demenz. Spaß haben alle. Viele Füße wippen mit. Eine Frau mit weißer Haarpracht ballt die Hände zu Fäusten und schwingt sie im Takt. „Wunderbar, der ganze Nachmittag“, sagt die 99-jährige Maria Wahner. Rosa-Marie Knauthe fühlt sich an früher erinnert: „Mein Mann und ich waren auch Tänzer.“
Knapp 700 dieser Konzerte haben Oliver Perau und seine Band bisher schon gegeben – jedes Jahr 60 bis 70 Auftritte, seit der Verein „Klang und Leben“ vor zehn Jahren gegründet wurde. Spenden, Sponsoren und Mitgliederbeiträge tragen dazu bei, dass die Musiker ein Honorar erhalten. Manchmal steuern auch die Heime etwas zu. Große Gagen wie bei glamourösen Rockkonzerten sind das nicht. Doch als die Corona-Pandemie begann, zeigte sich, wie wertvoll das Projekt auch für die Musiker ist.
„Als im April 2020 nichts mehr ging, sind wir trotzdem weitergefahren mit unserem Bus“, erzählt Perau. „Da haben wir eben nicht mehr in den Heimen gespielt, sondern davor.“ Die Senioren lauschten dabei aus Fenstern und vom Balkon. Inzwischen hat die Band allein während der Pandemie bundesweit schon mehr als 150 Konzerte gespielt. Und nicht nur die alten Leute sind tief berührt – das Erlebnis wirkt auch auf die Musiker zurück: „Ich fahre in der Regel glücklicher nach Hause, als ich gekommen bin“, sagt Perau.