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Mund zu Mund

„Kirche der Freiheit“ heißt das Impulspapier, das die evangelische Kirche vor zehn Jahren zu drastischen Reformen aufrief. Es zeichnete ein dramatisches Bild. Was bleibt davon heute?

Zehn Jahre ist es her, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ veröffentlichte. Die Aufregung war groß: Die Kirche würde dramatisch Mitglieder und Finanzen verlieren; Einschnitte und Reformen seien notwendig, so der Tenor des Papiers.
Heute sind die Folgen des Papiers überall in der Kirche zu spüren, auch in den Gemeinden.
Zum einen die positiven Auswirkungen. „Kirche der Freiheit“ hat die Kirche wachgerüttelt. Bis zu jenem Zeitpunkt gab es in Synoden und Kirchenvorständen die Tendenz auszublenden, was sich am Horizont abzeichnete: Nach Jahrzehnten der Stabilität fing das Haus der Kirche an zu bröckeln. Fachleuten war klar: Lange würde das nicht mehr gut gehen.  Das Impulspapier war ein überlebenswichtiger Weckruf; die Irritation, die es auslöste, notwendig und heilsam. Gemeinden, Kirchenkreise, Klassen und Landeskirchen haben mittlerweile ihre Hausaufgaben gemacht. Etliche stehen wieder relativ solide da.
Das Papier brachte aber nicht nur Segen. Seine gedankliche Voraussetzung war: Die Zeiten sind zwar schlecht, aber wenn wir uns nur genug anstrengen, werden wir Erfolg haben. „Wachsen gegen den Trend“ hieß das Schlagwort. Und oft hat es Presbyterinnen und Presbyter, Pfarrerinnen und Pfarrer an den Rand des Burnouts gebracht. Natürlich, es war richtig: Vieles auf den Kanzeln, in den Gemeinden und in den Synoden konnte man besser machen – und man kann es heute noch. Aber: Egal, wie gut und professionell man wird – den Erfolg kann man auch damit nicht erzwingen.
Eine, die dieses Denken früh kritisiert hat, ist die Bochumer Theologie-Professorin Isolde Karle („Kirche im Reformstress“). Maßstäbe und Instrumente, die das Reformpapier heranzog und empfahl, seien dem Denken der Wirtschaft entnommen. Dieses Denken aber, so Karle, sei nicht 1:1 auf Non-Profit-Organisationen wie die Kirche übertragbar. Hier komme es vor allem darauf an, dass Menschen sich mit hoher Identifikation und Motivation in die Arbeit einbringen – die ja auch oft noch ehrenamtlich erledigt werden soll.
Dazu kommt, dass die Finanzen der Kirche keineswegs eingebrochen sind; ganz anders, als es das Impulspapier vorhergesagt hatte. Das sei nur eine Atempause, und die schlechten Zeiten kämen jetzt aber wirklich – so die Autoren von damals (siehe Seite 11). Das mag sein. Umso mehr gebührt ihnen Dank, dass sie die Kirche wachgerüttelt haben.
Aber eine Atempause sollte man nutzen. Um zum Atmen zu kommen. Weg vom Hecheln.
Was kann das praktisch heißen? Weg vom Kosten-Nutzen-Denken. Konzentration auf das, was die Kirche ausmacht, auch wenn die Zeit dafür vielleicht nicht sehr erfolgversprechend zu sein scheint: Gottes frohe Botschaft vermitteln, sie immer wieder neu zu übersetzen. In der Begegnung Mensch zu Mensch. Auge in Auge. Herz zu Herz. Und Mund zu Mund: indem man für den anderen da ist, und mit ihm redet.