Vor 60 Jahren, am 13. August 1961, errichtete die DDR die Berliner Mauer, Deutschland war endgültig geteilt. Pastor Oliver Meißner wuchs im Westen mit Blick auf die Grenze auf und dachte, es würde immer so bleiben. Doch alles kam völlig anders.
Wienrode/Kr. Harz (epd). Wenn bei den Blankenburger Schlossfestspielen eine moderne Fassung von Romeo und Julia gespielt wird, gibt Pastor Oliver Meißner schon mal den Volkspolizisten. Und zum 50. Geburtstag verlieh ihm der Bürgermeister den Orden als «Aktivist der sozialistischen Arbeit». Das war nicht etwa zur Blütezeit der DDR, sondern ist gerade ein Jahr her. Oliver Meißner ist ein Grenzgänger, aufgewachsen als Wessi im Zonenrandgebiet, heute ein Liebhaber nostalgischer Ossi-Produkte.
«Ich will die DDR nicht verniedlichen, verteidige sie auch nicht. Ich würde mich auch nicht als Stasi-Mann verkleiden», sagt der evangelische Theologe. Aber die Dinge, mit denen er sich umgibt, hätten halt zur Realität der Ostdeutschen gehört. 2001 wurde der junge Pastor der braunschweigischen Landeskirche auf seine erste
Pfarrstelle nach Wienrode im Harz geschickt, wo er ein schönes Pfarrhaus fand und für fünf kleine Dörfer zuständig ist. Während Kollegen von ihm eine Abordnung in den Osten als Strafversetzung empfanden und so schnell wie möglich wieder wechseln wollten, ist er geblieben.
Meißners Wohnung sieht aus wie ein DDR-Museum. In der Küche hängt ein Plakat des früheren Ministerratsvorsitzenden Horst Sindermann. «Erstens guckt er freundlich, und zweitens hat er nur vier Euro mit Rahmen gekostet. Viel billiger als Honecker.» Der Original-Rafena-Fernseher braucht ein bisschen, bis ein Bild zu sehen ist: «Aber es gibt ja ohnehin nichts Vernünftiges im Fernsehen.»
Das schwarze Wählscheiben-Telefon W 38, VEB RFT 305, ist sein einziges – ein Smartphone besitzt der 51-Jährige nicht. «Warum auch? Wenn es brennt, sollten die Leute sowieso zuerst die Feuerwehr anrufen.» Er müsse den Leuten halt manchmal erklären, dass er ihre Nummer nicht im Display sehen könne. Und er hat sich immerhin einen Anrufbeantworter angeschafft.
Vor dem Haus steht ein sehr gepflegter 60 Jahre alter Trabant 600, den er erst vor kurzem von einem anderen Liebhaber gekauft hat. Es ist schon sein zweiter. Kommt das bei den Einheimischen nicht schräg an, wenn ein Wessi auf Ostalgie macht? Oliver Meißner verneint. «Die Leute merken: Das ist nicht nur ein Show-Auto, der fährt auch im Winter damit.»
Für die Gemeindearbeit sei der Trabi sogar «ein Türöffner» gewesen. Meißner erinnert sich an manches Traugespräch, wo die Frauen sich die kirchliche Zeremonie wünschten, und die Männer den Frauen zuliebe stumm danebensaßen. Über das Auto sei man ins Gespräch gekommen, wenn etwa dem Bräutigam einfiel, dass er «im Keller noch irgendwo einen Vergaser liegen haben müsste».
Oliver Meißner freut sich, wenn die Leute sagen: «Das ist unser Pastor.» Und zwar auch die, die nicht in der Kirche sind, was ja die Mehrzahl ist. «Als ich hierhergekommen bin, habe ich mich erstmal umgeschaut und die Bräuche geachtet, die es hier gab.» Da war es kein Problem, dass er Wessi ist. «Die Menschen möchten sich ihre Lebensleistungen nicht absprechen lassen», sagt der Gemeindepastor. «Ein Haus bauen ist ein Haus bauen.» Für die Einheimischen sei es außerdem eher identitätsstiftend, dass sie Harzer seien – und nicht Ost- oder Westdeutsche.
Die Gemeinden um Blankenburg eint noch eine besondere Geschichte: Seit der Reformation gehörte das Gebiet kirchenpolitisch zu Braunschweig. Nach der Gründung der DDR und im fortschreitenden «Kalten Krieg» wurde die Propstei ab 1973 zunächst von der sächsischen Kirche verwaltet, 1985 erfolgte die Eingliederung in die Kirchenprovinz Sachsen. Doch die Verbindung mit Braunschweig riss nicht ab – und nach dem Zusammenbruch der DDR beantragten die Gemeinden die Rückkehr in ihre frühere Landeskirche. Heute sind die Blankenburger Teil der Propstei Bad Harzburg.
Oliver Meißner hätte sich die Wiedervereinigung als Kind und Jugendlicher nicht vorstellen können. Aufgewachsen in Schöningen bei Helmstedt war für ihn klar, «dass es für uns nur in eine Richtung geht». Im Nachbarort Hötensleben verlief die deutsch-deutsche Grenze, die mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 zementiert wurde. «Wir haben öfter gedacht, eines Morgens wachen wir auf und zahlen mit Rubel.»
Denn die Bundeswehr war weit weg in Braunschweig. «Es hat keiner damit gerechnet, dass sich was verändert.» Das martialische Auftreten der Grenzer sei für ihn damals durchaus einschüchternd gewesen. «Erstaunlich, wie schnell der Apparat dann doch zusammengebrochen ist. Wie groß die Hilflosigkeit angesichts der friedlichen Revolution war.»
In Hötensleben sind die Grenzanlagen seiner Kindheit noch nahezu unverändert sichtbar. «Für die Leute, die da wohnen, ist das auf Dauer natürlich kein schöner Anblick.» Aber die junge Generation sollte sich das als Mahnung ansehen, findet der Pastor.