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Mit Ärzten auf Augenhöhe

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie plädiert für eine akademische Ausbildung von Pflegerinnen und Pflegern nach norwegischem Vorbild. Ziele sind umfassendere Kompetenzen und eine höhere gesellschaftliche Anerkennung

© epd-bild / Rüdiger Niemz

Seit Langem fordern Deutschlands Sozialverbände eine Akademisierung der Pflege. In anderen Ländern, etwa Norwegen, ist das Studium fester Bestandteil bei der Ausbildung von Krankenschwestern oder Altenpflegern. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie (Foto) hat sich über das dortige Pflegesystem informiert (siehe Artikel unten). Im Interview mit Benjamin Lassiwe fordert er eine Reform nach norwegischem Vorbild.

Herr Lilie, was ist Ihr Eindruck vom medizinischen System in Norwegen?
Das norwegische Gesundheitssystem ist völlig anders als das deutsche. Es ist mit sehr viel mehr Ressourcen ausgestattet. Norwegen hat das Glück, Ölfelder zu besitzen und kann es sich leisten, das Gesundheitssystem komplett aus Steuergeldern zu finanzieren. Mich hat besonders beeindruckt, dass in Norwegen die Bereitschaft zur gemeinsamen Wahrnehmung von Verantwortung für Lösungen zum Wohle der Patienten und Pflegebedürftigen selbstverständlich und eingeübt ist. Pflegende, Ärzte, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten und Seelsorger arbeiten im Team, unterstützen und beraten sich untereinander.

Ein wichtiges Thema ist die Professionalisierung der Pflege: In Norwegen hat fast jede Kran-kenschwester eine akademische Ausbildung.
Das ist ein Thema, das bei uns ganz oben auf die Tagesordnung gehört. In Norwegen werden Pflegekräfte mit großem Erfolg seit über 30 Jahren generalistisch ausgebildet – es gibt in der Ausbildung zunächst keinen Unterschied zwischen Altenpflegern, Pflegekräften im Krankenhaus und Kinderkrankenpflegern. Zusammen mit der akademischen Ausbildung hat das dazu geführt, dass der Pflegeberuf in Norwegen eine viel höhere Anerkennung genießt als in Deutschland.

Ist das auf Deutschland übertragbar?
Ja, gerade wenn die Akademisierung – wie in Norwegen – mit einem hohen Praxisanteil verbunden bleibt. Die unbestritten hohe Kompetenz der Pflegenden ist eine entscheidende Voraussetzung für die partnerschaftliche und dialogische Zusammenarbeit von Ärzten und Pflegenden zum Wohl der Patienten. Wir erleben bei uns in Deutschland immer noch starke Abgrenzungstendenzen zwischen beiden Berufsgruppen. Auch deswegen brauchen wir eine zügige Umsetzung des deutschen Gesetzesentwurfs für eine generalistische Pflegeausbildung.

Wie steht es um die gesellschaftliche Anerkennung von Pflege?
Auch hier können wir viel von Norwegen lernen. Die Pflegekunst ist gesellschaftlich genauso anerkannt wie die Ingenieurskunst. Viele junge Leute wollen studieren, um Krankenschwester oder Altenpfleger zu werden. An der Universität VID in Bergen, die in diakonischer Trägerschaft ist, gab es in diesem Jahr auf 108 Studienplätze mehr als 2000 Bewerbungen. Davon träumen wir in Deutschland. Von einem Fachkräftemangel in der Pflege ist in Norwegen nicht die Rede.

Das heißt aber auch, dass Pflegekräfte mehr verdienen müssen. Wäre das mit dem deutschen Krankenkassensystem machbar?
Wir werden sicher über Ressourcen und auch über deren sinnvolle Verteilung reden müssen. In Norwegen ist der Einkommensunterschied zwischen Ärzten und Krankenpflegern nicht so groß wie in Deutschland. Zudem zeigen uns die Norweger, mit wie wenig stationärer Versorgung gleichwohl ein gutes System der Pflege und der Medizin aufgebaut werden kann.
Sie setzen weitaus stärker auf sehr kompetente, dezentrale Ärztezentren und Pflegeeinrichtungen als auf Krankenhäuser. Wenn wir im Umfeld einer deutschen Großstadt in einem kleinen Radius zwischen 15 verschiedenen Linearbeschleunigern zur Krebsbehandlung wählen können, sollten wir fragen, ob das Geld so sinnvoll investiert ist – oder ob davon nicht einiges viel sinnvoller in eine gute Pflege fließen könnte.