Diese Zeilen schreibe ich mit Wut im Bauch. In der vergangenen Woche hat der Forschungsverbund „Forum“ den Abschlussbericht zu sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland veröffentlicht. Kirchenleitungen und Medien haben die Ergebnisse der Studie schon ausführlich diskutiert. Immer wieder ist von Bestürzung, Scham und Entsetzen die Rede.
Zu Recht, denn der Bericht der Forscher ergibt ein schlimmes Bild davon, wie die evangelische Kirche mit sexuellem Missbrauch bisher umgegangen ist. Es ist von annähernd 10.000 Betroffenen auszugehen, die seit 1946 unter Missbrauch zu leiden hatten. Ursachen, die den Missbrauch laut Studie begünstigen: Die evangelische Kirche sei konfliktunfähig und zu harmoniebedürftig. Und da spüre ich wieder diese Wut. Sowohl als Gemeindepfarrer als auch als Superintendent habe ich genau solche Situationen erlebt. Übergriffiges Verhalten von kirchlichen Mitarbeitern wurde „unter dem Deckel“ gehalten. In einem Fall kam es zur Versetzung in den Nachbarkirchenkreis. Nach meinem Empfinden war das die falsche Entscheidung, ich war aber damals nicht in der Position, Einfluss zu nehmen. Lediglich protestieren konnte ich. Es blieb ungehört. Eine Meldestelle gab es damals, vor rund 20 Jahren, noch nicht.
Presbyterium hielt an Angestellten fest
In einem anderen Fall hatte missbräuchliches Verhalten gegenüber Kindern so gut wie gar keine Konsequenzen. Das entsprechende Presbyterium hielt an dem Angestellten fest. Staatsanwaltschaft und Landeskirche waren einbezogen, für eine Verurteilung reichten die Vergehen nicht aus. Landeskirche und Kirchenkreis könnten nichts machen, hieß es. Es war und ist zum Verzweifeln. Als vor wenigen Jahren im Landeskirchenamt die Fachstelle „Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung“ eingerichtet wurde, habe ich dort den Fall noch einmal geschildert. Machtlosigkeit war damals mein vorherrschendes Gefühl und blieb es bis heute. Und Mitgefühl mit den betroffenen Familien, deren Kinder teilweise schwer belastet waren.
Missbrauch: Betroffene als Nestbeschmutzer beschimpft
Das Presbyterium handelte übrigens genauso, wie es jetzt als Methode zutage tritt: Die Betroffenen wurden als Nestbeschmutzer beschimpft, der Täter idealisiert. Und nun erfahre ich, wie viele tausend Male Ähnliches geschehen ist. Und das in der Kirche, die ich selbst seit meiner Kindheit so schätze und der ich viel zu verdanken habe. Schon vor Jahren habe ich auch die Schattenseiten erlebt. Und ich schäme mich dafür.
Nun hat die EKD die „konsequente Aufarbeitung“ angekündigt. Das ist alternativlos. Flächendeckende Schutzkonzepte sind vorgesehen, und kirchliche Gremien sind hoffentlich mehr sensibilisiert. Was in der Vergangenheit geschehen ist, darf sich nicht wiederholen. Nur dann kann die evangelische Kirche Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Bernd Becker ist Vorstand des Evangelischen Presseverbandes für Westfalen und Lippe. Er ist einer der drei Herausgeber:innen von evangelische-zeitung.de