In einem mehr als 60 Jahre zurückliegenden mutmaßlichen Fall von sexualisierter Gewalt in einem evangelischen Kinderheim bei Göttingen wollen die heute zuständigen Stellen weitere Schritte der Aufarbeitung gehen. „Es kann weitere Betroffene geben“, sagte der Göttinger evangelische Superintendent Frank Uhlhorn am Donnerstag dem Evangelischen Pressedienst (epd). Deshalb plane der Kirchenkreis gemeinsam mit anderen Akteuren einen Aufruf an frühere Heimkinder, sich zu melden, wenn sie ähnliches erlebt hätten.
Die Fälle von sexualisierter Gewalt sollen sich in den 1950er-Jahren im damaligen Evangelischen Kinderheim Obernjesa bei Göttingen ereignet haben. Zu den Beschuldigten gehört auch ein inzwischen verstorbener Pastor. Die Vorwürfe waren in der vergangenen Woche durch Recherchen des „Göttinger Tageblatts“ öffentlich bekannt geworden.
Bei der Nachfolgeorganisation des Heims, dem Verein „Haus am Thie – Evangelische Jugendhilfe Obernjesa-Borna gGmbH“ (EJO), hatten sich 2012 erstmals zwei Betroffene gemeldet, die als Kinder in dem Heim untergebracht waren. Sie hätten „in berührenden persönlichen Gesprächen“ glaubhaft davon berichtet, dass sie während dieser Unterbringung „massivsten sexuellen Grenzverletzungen, körperlicher Gewalt und Herabsetzung durch erwachsene Bezugspersonen“ ausgesetzt worden seien, heißt es auf der EJO-Homepage.
Superintendent Uhlhorn sagte, ihm sei klar, dass nicht alle Betroffenen heute erneut über ihre Erlebnisse von damals reden wollten. Sie müssten aber die Möglichkeit haben, dies zu tun. Es sei wichtig, „so gut es geht aufzuklären, welch furchtbares Leid in unseren Räumen passiert ist“, sagte er dem „Göttinger Tageblatt“ (Donnerstag). Der Theologe mahnte dabei Offenheit an: „Jeder, der mit uns sprechen möchte zu diesem Thema, ist herzlich eingeladen.“ Anonymität und Vertraulichkeit müssten gewährleistet sein. Auch die Öffentlichkeit müsse informiert werden.
Ähnlich äußerte sich EJO-Geschäftsführerin Esther John: „Wir sind jederzeit bereit, bei einer öffentlichen Aufarbeitung mitzuwirken“, sagte sie dem epd. Die Kirchenleitung der hannoverschen Landeskirche will sich ebenfalls beteiligen, wie ein Sprecher auf Anfrage mitteilte. In der kommenden Woche soll konkret besprochen werden, wie ein Aufarbeitungsverfahren aussehen kann.
Eine unabhängige Kommission der hannoverschen Landeskirche hatte die Berichte der Betroffenen 2013 als plausibel eingestuft und ihnen Anerkennungsleistungen für erlittenes Leid zugesprochen. Die gezahlten Leistungen lagen nach Angaben der Landeskirche in einer Höhe zwischen 5.000 und 50.000 Euro.
Uhlhorn kritisierte, dass er als leitender Theologe in der Region von der Kirchenleitung in Hannover nicht früher über die Fälle informiert worden sei. Erst nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche im Januar 2024 habe er vom früheren Leiter der EJO davon erfahren. Die Landeskirche bezeichnete es inzwischen als Fehler, den Kirchenkreis zu spät informiert zu haben.
Zusätzliche Brisanz erhielt der Fall durch eine Person aus dem familiären Umfeld des beschuldigten Pastors. Sie verlangte vom Verein EJO und der Landeskirche, ihr die Namen der Betroffenen zu nennen. Zudem solle der EJO die Behauptung, dass in dem Heim Kinder missbraucht worden seien, unterlassen und den entsprechenden Passus auf der Internetseite löschen. Beides wurde abgelehnt.