Das Anti-Missbrauchsgesetz stößt bei Sachverständigen und Verbänden auf breite Zustimmung – an Details zur Umsetzung gab es in der Bundestagsanhörung am Montag aber Kritik. Zu den Defiziten des Entwurfs von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) zählt eine Mehrheit der Sachverständigen die Begrenzungen beim Akteneinsichtsrecht für Betroffene. Durchweg positiv wurde die Stärkung des Amts der Missbrauchbeauftragten und die gesetzliche Verankerung des Betroffenenrats und der unabhängigen Aufarbeitungskommission beurteilt.
Zur Akteneinsicht sagte der Ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Ulmer Universitätsklinikums, Jörg Fegert, ein Rechtsanspruch für die Betroffenen gegenüber den Jugendämtern reiche nicht. Es müssten auch die Akten aus Kliniken oder Einrichtungen der Behindertenhilfe für Betroffene einsehbar sein. Betroffenenverbände nannten zudem Kirchen- und Schulakten sowie Unterlagen von Vereinen und Einrichtungen im Sport.
Angela Marquardt vom Betroffenenrat und Ingo Fock von der ältesten Selbsthilfevereinigung „gegen-missbrauch e.V.“ machten deutlich, dass die Begleitung von Betroffenen bei der individuellen Aufarbeitung ihres Falls Geld kosten werde. Zusätzliche Mittel seien aber im Gesetzentwurf nicht vorgesehen, kritisierte Marquardt.
Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ will die Ampel-Koalition das Amt der Missbrauchsbeauftragten, den Betroffenenrat und die unabhängige Aufarbeitungskommission gesetzlich absichern und ihre Kompetenzen erweitern. Betroffene sollen bei der individuellen Aufarbeitung unterstützt werden und Einsicht nehmen können in Behörden-Akten. Außerdem soll die Prävention verstärkt werden.
Die Präsidentin des Kinderschutzbundes und frühere Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, die Frankfurter Kindheits- und Familienforscherin Sabine Andresen, betonte, dass Betroffene ein Recht auf Aufarbeitung haben. Akteneinsicht sei dafür eine zentrale Voraussetzung, werde aber im Gesetzentwurf nicht klar und konkret geregelt, bemängelte Andresen. Sie verlangte zudem eine Aufstockung des Personals und der Mittel für die Aufarbeitungskommission. Das ehrenamtlich arbeitende Gremium soll mit seinem jetzigen Stab künftig auch die Aufarbeitungsprozesse von Institutionen prüfen, beispielsweise der Kirchen.
Die unabhängige Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus würdigte das geplante Gesetz als „Meilenstein“ im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen und drang erneut auf eine schnelle Verabschiedung. Die stärkste politische Auswirkung werde die künftige Berichtspflicht der Missbrauchsbeauftragten an Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung entfalten, erklärte Claus. Die Politik werde dadurch regelmäßig mit den Lücken im Kinderschutz konfrontiert und müsse diesen zu einer vordringlichen Aufgabe machen. Die Berichte werden auf Forschungsergebnissen basieren. Claus hat bereits eine Dunkelfeldstudie in Auftrag gegeben.
Die offiziellen Zahlen aus der Kriminalstatistik bilden nur das sogenannte Hellfeld ab. Dem Bundeskriminalamt zufolge sind die Zahlen 2023 erneut gestiegen, gegenüber 2022 um 5,5 Prozent. Die Strafverfolgungsbehörden registrierten 16.375 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen – das entspricht 54 Angriffen pro Tag. Zwei Drittel der Betroffenen sind Mädchen, ein Drittel Jungen.