Es ist eine Rolle, die ihr auf den Leib geschrieben scheint: Als hinterlistiger Erzengel Gabriel in der Comic-Verfilmung „Constantine“ (2005) gibt Tilda Swinton dem Titelhelden (Keanu Reeves) zu verstehen, dass sie der Menschheit eine Lektion erteilen wird. Leiden soll die undankbare Spezies, damit sie Gottes Gnade endlich würdig wird. Ein leichtes Lächeln umspielt bei dieser Drohung ihre Lippen, die Augen strahlen grün, rote Locken umspielen das elfenhafte Gesicht. Umhüllt von einem fließenden, weißen Gewand wirkt sie mit einem Teint wie Porzellan und ihren schlanken 1,79 m unangestrengt makellos. Allein mit ihrem Zeh hält sie den schwitzenden, am Boden liegenden Constantine in Schach.
„Tilda Swinton ist eine der vielseitigsten und geheimnisvollsten Schauspielerinnen des 21. Jahrhunderts. Als Meisterin des Androgynen hat sie mehr für die Aufhebung der Geschlechterbinärität und die Feier von fluider Geschlechtervielfalt getan als jede andere – und dabei elegant den Spagat zwischen Arthouse-Kino und Mainstream geschafft“, würdigt die freie Filmkuratorin Stefanie Görtz die schottische Schauspielerin, die am 5. November 65 Jahre alt wird. Bis heute hat Swinton in mehr als 60 Filmen mitgewirkt, 2024 wurde sie auf der 75. Berlinale mit dem Ehrenbären für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Der Weg dahin erzählt auch von einer Rebellion gegen eine traditionsreiche Familie: Katherine Matilda Swinton wurde 1960 in London geboren. Die Mutter gebürtige Australierin, der Vater ein britischer Militärgeneral und Spross eines schottischen Adelsgeschlechts, dessen Vorfahren sich bis in das 9. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Sie ging unter anderem mit Diana Spencer, später bekannt als Lady Di, zur Schule und schloss nach einer privilegierten Kindheit und Jugend 1983 ihr Studium der Politik- und Sozialwissenschaften in Cambridge ab.
Da war Tilda Swinton aber längst der Schauspielerei verfallen. Nachdem sie ein Jahr lang Teil der Royal Shakespeare Company gewesen war, lernte sie den britischen Regisseur und Künstler Derek Jarman kennen. Mit ihm drehte sie ihren ersten Film „Caravaggio“ (1986), weitere, teils experimentelle Filme folgten. Jarman starb 1994 an den Folgen von Aids.
Die Zeit mit ihm prägt Swinton bis heute künstlerisch und politisch. Die Begegnung mit Jarman markiert auch den Beginn ihres politischen Aktivismus. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ging sie auf die Straße, um gegen die Diskriminierung von HIV-positiven Menschen zu demonstrieren. Später engagierte sie sich für die schottische Unabhängigkeitsbestrebungen 2018. Und seit dem Massaker der terroristischen Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel – das den Gazakrieg auslöste – hat sie mehrfach das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza kritisiert. Im September forderte sie zusammen mit anderen aus der Filmbranche einen Boykott israelischer Filminstitutionen.
Die 1990er Jahre waren für Swinton beruflich wie privat eine intensive Zeit. 1992 konnte sie nach längerer Planung den Film „Orlando“, die Adaption von Virginia Woolfs gleichnamigen Roman, unter der Regie von Sally Potter verwirklichen. Swinton spielt darin einen adligen Menschen, der ohne zu altern rund 400 Jahre lang lebt, von 1600 bis in die Gegenwart. In der zweiten Filmhälfte wandelt er sich von einem Mann zu einer Frau. „Ein anderes Geschlecht, derselbe Mensch“, kommentiert Swinton als Orlando diese Metamorphose. „Orlando“ gilt bis heute als Kultfilm und machte Swinton früh zu einer Arthouse-Ikone, der androgyne Look blieb ihr Markenzeichen.
1997 wurde Swinton Mutter von Zwillingen und zog bald darauf mit ihrem damaligen Partner, dem Autor und Künstler John Byrne, aus dem trubeligen London nach Nairn in die schottischen Highlands, wo sie seit 2004 mit dem deutschen Maler Sandro Koop lebt.
Einem breiten Publikum ist sie seit der Jahrtausendwende bekannt: Sie spielte an der Seite von Leonardo DiCaprio in Danny Boyles „The Beach“, gab die Weiße Hexe in der Fantasy-Roman-Verfilmung „Die Chroniken von Narnia“ und erhielt für ihre Rolle als ehrgeizige Unternehmensanwältin Karen Cowder in „Michael Clayton“ den Oscar für die beste Nebenrolle.
Tilda Swinton wechselt mühelos zwischen anspruchsvollem Kunstkino und Mainstream-Filmen. Sie drehte wiederholt mit Autorenfilmern wie Jim Jarmusch, Wes Anderson, Bong Joon-ho oder Luca Guadagnino, trat aber auch als Mentor „Ancient One“ in den Blockbuster-Marvel-Verfilmungen „Doctor Strange“ und „Avengers: Endgame“ auf. Ob melancholischer Vampir in „Only Lovers Left Alive“ oder Mutter eines Teenagers, der nach einem Amoklauf an seiner Highschool im Gefängnis sitzt („We Need to Talk about Kevin“): Swintons schauspielerisches Können überzeugt.