Die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche in den USA steigt, obwohl der straffreie Zugang zu Abtreibungen massiv eingeschränkt ist. Die Trends in den 50 Bundesstaaten gehen in entgegengesetzte Richtungen.
Als das höchste US-Gericht im Sommer 2022 das Grundsatzurteil “Roe vs. Wade” zu Abtreibungen nach fast 50 Jahren auf den Müllhaufen der Geschichte beförderte, verbreitete sich unter Abtreibungsgegnern Enthusiasmus. Doch inzwischen, fast drei Jahre später, ist ihre Bilanz ernüchternd. Nachdem die Entscheidung über die Zulässigkeit von Abtreibungen automatisch in die Hände der Bundesstaaten zurückgefallen war, nahm die Zahl der Abbrüche nicht ab – sondern zu. Das geht aus einer Studie des Guttmacher Institute hervor, das sich mit sexueller und reproduktiver Gesundheit befasst.
Insgesamt stieg die Abtreibungsquote 2024 im Vergleich zum Vorjahr um knapp ein Prozent. Viel aussagekräftiger als der Anstieg selbst sind die erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesstaaten. Während die Zahlen in den Bundesstaaten mit Verboten und Einschränkungen abnahmen, legten sie in denen mit liberaleren Gesetzen zu. In der Summe ergibt das: landesweit mehr als eine Million Abtreibungen.
Im Kontrast zum Gesamtanstieg in den USA verringerte sich die Zahl der Abbrüche in Florida um mehr als 12.000 im vergangenen Jahr. Eine Entwicklung, die mit dem dortigen, seit Mai 2024 geltenden Abtreibungsverbot in direktem Zusammenhang steht, wie die Wissenschaftler erklärten. Auch in South Carolina ging die Zahl der Abbrüche zurück, um rund 3.500, nachdem 2023 ein Abtreibungsverbot nach der sechsten Schwangerschaftswoche in Kraft trat.
Zugenommen haben stattdessen die Zahlen von Abtreibungen in Bundesstaaten, in denen der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen straffrei ist. Etwa in Wisconsin, wo Abtreibungen von rund 1.300 im Jahr 2023 auf etwa 6.100 im abgelaufenen Jahr zunahmen; ein Zuwachs von 388 Prozent. Auch in Arizona, Kalifornien, Kansas, Ohio und Virginia schnellten die Zahlen 2024 in die Höhe.
“Was in einem Bundesstaat passiert, beeinflusst auch die Entwicklung in anderen”, so der Projektleiter der Studie, Isaac Maddow-Zimet. Da gibt es den sogenannten Abtreibungstourismus: Die Quote der Frauen, die 2024 aus Bundesstaaten mit restriktiven Abtreibungsgesetzen in Staaten mit liberalen Gesetzen reisten, um einen Abbruch vorzunehmen, ist der Studie zufolge doppelt so hoch wie 2020, also vor der Entscheidung des obersten US-Gerichts im Fall “Dobbs vs. Jackson Women’s Health Organisation”.
So ist beispielsweise Illinois der nächstgelegene Bundesstaat für Frauen aus den Südstaaten, wo Abtreibung fast vollständig verboten ist. Ähnliche Erfahrungen machen Kansas und New Mexico. North Carolina ist vorwiegend für Frauen aus Florida das Ziel, in dem Abtreibungen nach der zwölften Schwangerschaftswoche verboten sind.
Ein Effekt, der Abtreibungen nach dem Urteil des Supreme Court weiter steigen lässt, ist die wachsende Nachfrage nach der Abtreibungspille. Nach früheren Untersuchungen des Guttmacher Institute ist sie nun die häufigste Methode, Schwangerschaften zu beenden.
Vor allem das Medikament Mifepriston kommt auf dem Postweg in Bundesstaaten mit strengen Abtreibungsgesetzen. Absender ist etwa das “Massachusetts Medication Abortion Access Project”. 95 Prozent der monatlich bis zu 3.000 Mifepriston-Packungen gehen in diese Staaten, so Angel Foster, Mitbegründerin des Projekts.
Rechtlich ist das umstritten. Massachusetts ist einer von acht Bundesstaaten, die Abtreibungsanbieter vor strafrechtlichen und zivilrechtlichen Klagen schützen. Die Versender werden per Gesetz vor Strafverfolgung geschützt, wenn die Abtreibungsregelungen der Bundesstaaten unterschiedlich sind.
Das ist ein Dorn im Auge des texanischen Generalstaatsanwalts Ken Paxton. Der Republikaner hatte eine Zivilklage gegen eine New Yorker Ärztin eingereicht, die Abtreibungspillen an die Mutter einer schwangeren Teenagerin in Texas schickte. New Yorks Gouverneurin Kathy Hochul und die Gerichte weigern sich, die Strafe über 113.000 Dollar gegen die Ärztin durchzusetzen. Mit dem Effekt, dass dadurch die Bestellungen für Abtreibungspillen für Frauen in Bundesstaaten mit restriktiven Abtreibungsgesetzen nur noch weiter in die Höhe schnellen.