Er selbst hielt sich an ein elftes Gebot: “Du sollst nicht gleichgültig sein!” Marian Turski war einer der bekanntesten Zeitzeugen der NS-Verbrechen. Nun ist die eindringliche Stimme des Auschwitz-Überlebenden verstummt.
Manch einer hätte ihn gerne als Friedensnobelpreisträger gesehen. Doch dazu kam es nicht: Der Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Marian Turski, ist am Dienstag im Alter von 98 Jahren gestorben. Das teilten das Komitee und die polnische Zeitschrift Polytika am Abend mit.
Der Holocaust-Überlebende war ein unermüdlicher und angesehener Zeitzeuge, der oft das Gespräch mit jungen Menschen suchte, noch im hohen Alter in Polen als Journalist arbeitete und sich immer wieder für die Demokratie in Europa engagierte. 2019 sprach er zum Holocaust-Gedenktag vor den Vereinten Nationen in New York.
“Ohne Marian Turski sind wir sehr allein”, erklärte Christoph Heubner, der Exekutiv- Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, am Abend in Berlin: “Umso mehr bleibt uns als eine seiner letzten Botschaften, der letzte Satz, den er in seiner Rede anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz für die Gedenkfeier am 23. Januar in Berlin formulierte: ‘Unsere Tage, die der Überlebenden, sind gezählt: Aber wir werden nicht verstummen, wenn Sie, Sie Alle nicht schweigen.'”
Heubner hatte Turski schon zum Amtsantritt als Präsident 2021 als “weltweit eine der wichtigsten politischen Stimmen der Überlebenden von Auschwitz” gewürdigt. Diese Stimmen seien in Zeiten des überall aufflackernden antisemitischen Hasses und der Gewaltbereitschaft rechtsextremer Kräfte dringend nötig.
Turski selbst erhob seine Stimme bei zahlreichen Gelegenheiten – und vermochte so zu sprechen, dass seine Worte bei den Zuhörern oft lange nachhallten. So bleibt zum Beispiel seine Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz im Jahr 2020 im Gedächtnis. Damals erinnerte der 1926 Geborene bei der zentralen Gedenkfeier daran, dass “Auschwitz nicht vom Himmel gefallen ist”. An die jungen Menschen in aller Welt appellierte er dabei mit einem viel beachteten elften Gebot “Du sollst nicht gleichgültig sein!”.
Dieses Gebot befolgte Turski selbst. Nicht nur im Präsidentenamt des Internationalen Auschwitz-Komitees, das er 2021 nach dem Tod von Roman Kent übernahm. Kent war ein Jugendfreund, der Turski seit der Zeit im Ghetto von Lodz vertraut war.
Marian Turski war mit seiner Familie 1942 in dem Ghetto inhaftiert worden, bevor die Nazis ihn 1944 nach Auschwitz verschleppten. Auf einem der mörderischen Todesmärsche Anfang 1945 erreichte er über mehrere Stationen Theresienstadt, wo ihn und andere Überlebende Soldaten der Roten Armee am 8. Mai 1945 befreiten – “mehr tot als lebendig”, so das Komitee.
Später arbeitete er in Warschau als Journalist, etwa für das Magazin Polityka. Er gehörte dem Internationalen Auschwitz Rat an, der die polnische Regierung in allen Angelegenheiten der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau beraten soll. Außerdem gründete Turski das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau mit und war Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts. Bei der Eröffnung des Museums sagte er: “Den Schatten der Ermordeten möchten wir sagen, wir sind hier.”
2015, anlässlich der zentralen Gedenkfeier in Berlin zum 70. Jahrestag der Befreiung der Überlebenden von Auschwitz-Birkenau, ermutigte Turski die Jugend, den “Staffelstab” der Erinnerung aufzugreifen und den “Schatz an Erfahrungen” aufzunehmen und weiterzugeben. Er machte auch deutlich, was das für ihn bedeute: Wenn jemand heute etwa einen Bosnier, einen Türken, einen Israeli, einen Palästinenser, einen Christen oder einen Muslim demütige, dann sei es so, “als beginne Auschwitz von neuem”.
Einen Monat nach Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 sagte Turski, er fühle sich angesichts des russischen Angriffs an seine Gefühle zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erinnert. “Angst, Verwirrung und Hilflosigkeit” hätten die ersten Tage im September 1939 nach dem deutschen Überfall auf Polen geprägt. Und im April desselben Jahres nannte er Europa ein “Projekt der Hoffnung und der Sicherheit”. Den Völkern der Welt gab er einen dringenden Rat: Sie täten gut daran, “unsere Erinnerungen und Warnungen als realistische Beschreibungen des Menschenmöglichen zu bewahren”.