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Kunst-Stoff: Textil als künstlerisches Material

Kaum etwas kommt dem menschlichen Körper so nah wie Stoff. „Stoff erleben wir hautnah und mit allen Sinnen“, sagt die Kuratorin der Emder Kunsthalle, Kristin Schrader. Am Sonnabend (16. September) eröffnet das Museum im äußersten Nordwesten Deutschlands seine neue Sonderausstellung „Kunst-Stoff: Textil als künstlerisches Material“. Mehr als 60 gewebte, gestrickte, zerknüllte, gefaltete, bedruckte oder gefilzte Exponate von 44 internationalen Künstlerinnen und Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts laden ein, die Fantasie schweifen zu lassen – oder sich aber mit handfester politischer Realität auseinanderzusetzen.

Manche stoffliche Installation wirft zunächst viele Fragen auf. Gleich im großen Foyer des Hauses hat die Düsseldorfer Künstlerin Ulrike Kessl ein riesiges dreidimensionales Netz aus bunten Strumpfhosen geknotet und getackert. Das farbenfrohe Werk mit dem Titel „Nylons in space“ erinnert an ein gigantisches Neuronennetzwerk oder eine Partydekoration. „Manchmal ist ein modernes Kunstwerk kein Rätsel, mit einer logischen Erklärung – manchmal ist es einfach nur schön“, sagt die Sprecherin der Kunsthalle, Ilka Erdwiens.

Um die empfindlichen Fasern zu schützen, sind die Ausstellungsräume auf 50 Lux abgedunkelt. Oft braucht das Auge etliche Sekunden, um etwa auf einem scheinbar tiefschwarzen Wandteppich von Rosemarie Trockel feine, dunkelblaue Muster wahrzunehmen. Von anderen Werken strahlen dagegen trotz des schummrigen Lichtes die Farben leuchtend hell.

Der Quickborner Reinhold Engberding legt gerade letzte Hand an sein Werk. Er hat seine Kunst buchstäblich auf den Straßen der US-Stadt Dallas gefunden. Als er an der dortigen Universität für einen Monat einen Lehrauftrag wahrnahm, bat er um ein Fahrrad, um die Umgebung erkunden zu können. „Das hat dort schon für Verwirrung gesorgt“, sagt er und schmunzelt. Auf seinen Touren entdeckte er herrenlose Kleidungsstücke, die er aufsammelte. „Unterhosen, eine Mütze, eine Pyjama-Hose, Sweatshirts. Und ich habe mich gefragt, welche Menschen verlieren solche Kleidungsstücke?“

Später klärte sich der Ursprung der Kleidung auf: Sie stammte von Menschen, die ihre gesamte Habe in einem „geliehenen“ Einkaufswagen durch die Gegend schieben. „Manchmal fällt ein Teil runter, manchmal wird etwas nicht mehr gebraucht.“ Engberding wusch die Stücke, rollte sie kompakt auf und verklebte oder vernähte sie. An jedem neuen Ausstellungsort drapiert er die Knäule seines Werks „One month in Dallas“ stets anders. „Der Raum gibt die Ordnung vor, wichtig ist mir nur eine Ecke“, sagt er. Warum es ihm darauf ankommt, führt er allerdings nicht weiter aus.

Dass Kleidung hautnah schützen und zugleich für Bedrohung stehen kann, zeigt die menschengroße Arbeit der Berliner Performance-Künstlerin Mehtap Baydu. Sie zerriss 33 getragene Männerhemden in Streifen und strickte sich damit nackt in einen Kokon ein. Die Entstehung der textilen Körperumhüllung dokumentierte sie mittels einer Dia-Show und einem Video. Die Installation ist sonst im Istanbuler „Arter Collection“-Museums zu sehen.

„Textile Kunst gehört zu den ältesten Kunstformen überhaupt“, sagt Kuratorin Schrader. Angesichts der universellen Bedeutung, die Textilien seit jeher für den Menschen haben, sei es erstaunlich, wie wenig das Thema aus kunsthistorischer Sicht bislang bearbeitet worden ist. Textilien seien extrem sinnlich und eng verknüpft mit emotionalen Erleben und persönlichen Erfahrungen. Sie hätten ein Schutz- und Schmuckfunktion, könnten aber auch zu Trägern politischer oder sozialer Botschaften werden.

Die Ausstellung will in ihrer gestalterischen Vielfalt einen Bogen spannen zwischen angewandter und freier Kunst von den 1920er-Jahren bis in die Gegenwart, erläutert Schrader. Zu sehen sind unter anderem Arbeiten der Bauhaus-Künstlerinnen Anni Albers und Gunta Stölzl sowie teils raumgreifende Textilplastiken der 1960er- und 1970er-Jahre. Zu den Exponaten gehören Ikonen der modernen Kunst wie einer der berühmten Filzanzüge von Joseph Beuys und ein Wäscheberg des italienischen Arte-Povera-Künstlers Michelangelo Pistoletto.

„Wir wollen inhaltliche Bezüge und neue Perspektiven auf alltäglich Vertrautes schaffen“, sagt Schrader. Zwar dürfe aus Sicherheitsgründen keines der ausgestellten Exponate angefasst werden. Aber auch so berühre Stoff „wie kein zweites Medium.“