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Kriege und Krisen: Wie uns Beten Kraft gibt

Wie können wir angesichts von Leid und Krieg und den Herausforderungen unserer Zeit überhaupt noch beten? Unser Gastautor, Pfarrer Günter Hänsel, über Hoffnung und die Kraft des Gebets.

Günter Hänsel ist Pfarrer in Berlin-Schlachtensee und Geistlicher Begleiter.
Günter Hänsel ist Pfarrer in Berlin-Schlachtensee und Geistlicher Begleiter.Fräulein Fotograf

Ich sehne mich in diesen Tagen nach Hoffnung. Hoffnung ist in unseren Tagen rar geworden. Das belegen aktuelle Studien und Untersuchungen zur gesellschaftlichen Situation in unserem Land. Verschärfen sich Konflikte und Unmut, weil Hoffnung fehlt? Doch: Ohne Hoffnung, kein Leben! Hoffnung brauchen wir wie die Luft zum ­Atmen. Traurige, ohnmächtige und erschöpfte Seelen in diesen Tagen brauchen etwas, was ihre Hoffnung nährt und wärmt, sonst bleiben sie doch schutzlos zurück. Hoffnung leugnet und verdrängt die harte Realität nicht. Gerade inmitten alldem wird nach dem kleinen Licht in der Nacht Ausschau gehalten.

Denn die Hoffnung, so der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han in seinem neuesten Buch „Der Geist der Hoffnung“, stößt „… ins Unbekannte, ins Unbegangene, ins Offene, ins Noch-Nicht-Seiende vor, indem sie über das Gewesene, über das bereits ­Seiende hinausgreift.“ Die Hoffnung, so Han, müsse erwachen. Sie greife über sich hinaus, komme aus der Ferne, von woandersher.

Meine Seele findet in diesen Tagen Wärme und Hoffnung im Gebet. Im Gebet schaue ich von mir selbst weg, weiß mich in etwas anderem gehalten und mit anderen Menschen verbunden. Das Gebet gehört zum Leben eines religiösen Menschen dazu. Aber: Heute noch ­beten? Was bringt das? Wie können wir angesichts von Leid und Krieg überhaupt noch beten?

Beten als ein ganzheitliches Geschehen

Das Beten kennt in der jüdisch-christlichen Tradition verschiedene Formen: die Klage, die Bitte, das Lob und den Dank. Beim Beten geht es immer um den ganzen Menschen. Wir sind Körper, nicht wir haben ­einen Körper. So ist das Beten ein ganzheitliches Geschehen: Sich tanzend dem Geheimnis des Lebens zu nähern wie die Sufis durch Körperbewegungen es tun, so wird Beten ganzheitlich. Dass ein Mensch sich mit all seinen Gedanken und Gefühlen an Gott wenden kann, nichts ausklammern muss, was das Leben gerade umtreibt, sondern sich auch in all seiner Widersprüchlichkeit, seinen Ängsten und Sorgen zeigen kann, darin liegt der wesentliche Sinn des Betens. Eben auch alles Unerfüllte darf im Gebet sein.

Der evangelische Theologe Johann Hinrich Claussen beschreibt das so: „Denn das Glück des Betens besteht weniger darin, dass Bitten erhört werden, als eher darin, dass sie überhaupt gehört werden, dass also Seele und Gott in Kontakt treten und sich gegenseitig verstehen. Manchmal verändert sich dann der Blick eines Menschen auf sich selbst, seine Mitmenschen und seine Welt von Grund auf.“ Mit persönlichen Anliegen gesehen und gehört zu werden, darin liegt eine tiefe menschliche Sehnsucht. Im Gebet vertraut der Mensch sich einer verborgenen Wirklichkeit an, der er sich sprechend oder schweigend nähern kann.

Lauschen auf den inneren Ton

Beim Beten geht es um ein Lauschen auf den „… inneren Ton in allen Dingen“, wie der katholische Theologe Romano Guardini schreibt. Mit den Jahren kommt mein Gebet ohne große Worte aus: Oft sitze ich einfach ganz still. Ich spüre meinen Körper und nehme meinen Atem wahr. Ich bin einfach da und in mir steigen die Worte auf „DU bist da“. In dieser Gebetshaltung scheint etwas von einer Tiefe auf und ich weiß mich geborgen. Nach dem Beten muss sich der Einzelne nicht glücklich und selbstbewusster fühlen.

Das Gebet entzieht sich dem „Glücksdiktat“ , wie der Titel eines Buch der Soziologin Eva Illouz lautet. Im Gebet kann erzählt werden. Erzählen zu dürfen, hat eine heilsame Wirkung. Über das eigene Leben erzählen zu können, über das Schöne und Schwere darin, kann etwas in Gang bringen. Sich freizuerzählen, das macht die Seele leicht.

Beten schafft Zeit zum Einkehren und Innehalten, um im Inneren Halt zu finden. Die Krisen und Sorgen unserer Zeit sind kräftezehrend. Das Gebet kann angesichts der Herausforderungen und Turbulenzen des Lebens die Zeit sein, um das „Allertiefste in mir“ zu spüren. So nennt die Jüdin und moderne Mystikerin Etty Hillesum Gott. Sich mit allem, was das Leben bewegt, Gott, dem Geheimnis des Lebens, anzuvertrauen, das wärmt und umhüllt unsere Seele in diesen Tagen.

Günter Hänsel ist Pfarrer in Berlin-Schlachtensee und Geistlicher Begleiter.