Das Kölner Museum Ludwig bewegt sich. Seit der Eröffnung 1981 sei das Gebäude einen halben Meter nach Süden gewandert, erklärt die Kunsthistorikerin und Kuratorin Miriam Szwast. „Denn wir befinden uns auf der Eurasischen Platte, die sich kontinuierlich verschiebt.“ Die tektonische Platte bewege sich etwa so schnell, wie Fingernägel wachsen. Das erscheine uns zwar langsam. Aber aus der Perspektive eines 400 Millionen Jahre alten Rheinkiesels sei das sehr schnell.
Das Erleben von Zeit und Orten ist Thema einer neuen Ausgabe der Ausstellungsreihe „Hier und Jetzt“ im Museum Ludwig. „Der Blick auf die Millionen Jahre alte Geschichte des Ortes, an dem wir uns befinden, kann uns bei der Orientierung in unserer krisenhaften Zeit helfen“, sagt Szwast. Die Schau „Und gestern und morgen“ führt dazu seit Samstag geologische Funde und Dokumente mit Kunstwerken zusammen, darunter unter anderem Fotografien, Grafiken und Zeichnungen von atelier le balto, Chargesheimer, Tacita Dean, Gustave Le Gray, Charles Marville, Yoko Ono, Gerhard Richter und Alfred Stieglitz.
Die Ausstellung, die bis zum 13. Oktober zu sehen ist, bestimmt den aktuellen Standort zunächst mit einer Tiefenbohrung. Teile eines knapp 80 Meter langen Bohrkerns aus Köln-Hohlweide zeigen die Millionen Jahre alten Erdschichten, auf denen das Museumsgebäude steht. Tiefe, 24 Millionen Jahre alte Sandschichten zeugen von der Zeit, als das Gebiet der heutigen Stadt Köln noch an der Nordsee lag. Fazit: Die Erde unter unseren Füßen befindet sich in dauerndem Wandel, auch wenn wir das kaum wahrnehmen.
In Gerhard Richters Darstellung der Schweizer Alpen hingegen wird die für uns nicht spürbare tektonische Bewegung sichtbar. Anstelle einer Horizont-Linie kippen die Berge auf diesen Siebdrucken. Licht- und Schattenflächen in unterschiedlichen Grautönen schieben sich gegeneinander und erinnern daran, wie die Alpen einst durch tektonische Bewegungen aufgewölbt wurden. Arbeiten des Kölner Fotografen Chargesheimer, bürgerlich Karl Heinz Hargesheimer (1924-1971), aus den 1950er Jahren zeigen Basaltstrukturen aus dem Siebengebirge, die durch vulkanische Aktivität der Erde entstanden.
Nicht nur Steine oder versteinerte Funde wie etwa Millionen Jahre alte Kiefernzapfen zeugen in der Ausstellung von der langen Geschichte, in die wir als Menschen eingebettet sind. Auch Bäume sind mitunter stumme Zeugen einer lange zurückliegenden Vergangenheit. Das erklärt die Jahrringforscherin Marieke van der Maaten-Theunissen in einem der Audiobeiträge, die in der Ausstellung per Smartphone über QR-Codes abrufbar sind.
Ein besonders beeindruckender Zeitzeuge ist ein mehr als 1.000 Jahre alter Kirschbaum in der japanischen Präfektur Fukushima, der Stürme, Erdbeben und die Nuklearkatastrophe von 2011 unbeschadet überstand. In der Ausstellung präsentiert die in Berlin lebende britische Künstlerin Tacita Deans den rosa blühenden Baum als wandfüllende, handbearbeitete Fotografie. Vor dem Bild bietet das Museum an ausgewählten Terminen Meditationen an, die dazu anregen sollen, „den Blick aus dem Alltag zu heben und in größeren Dimensionen zu denken“, wie Szwast erklärt.
Der dritte Abschnitt der Ausstellung richtet den Blick schließlich in den Himmel und in die Zukunft. So wie die Erdschichten ständig in Bewegung sind, verändern sich auch die verschiedenen Lagen der Atmosphäre. Die Wolken in ihren unterschiedlichen Formationen und Bewegungen dienen der Vorhersage des Wetters. Zu sehen sind sie zum Beispiel auf den Fotografien von Gustave Le Gray (1820-1884), dem es als erstem Fotografen gelang, Wolken in Landschaftsfotografien gut erkennbar darzustellen.
Kommentiert werden die Bilder von einer Meteorologin und einem Meteorologen, die die Bedeutung der Wolken für die Wettervorhersage erklären. Die Ausstellung endet mit einem Blick in die ferne Zukunft, mit der sich etwa Forscher beschäftigen, die nach sicheren Lagerungsmöglichkeiten für unsere radioaktiven Abfälle suchen.
Im Rahmen der Ausstellung unternimmt das Museum Ludwig auch den Versuch, ein Stück verlorene Natur auf der Dachterrasse des Hauses zu rekonstruieren. Dort pflanzte das Landschaftsarchitektur-Büro atelier le balto in Kübeln einen Dachgarten mit hochrankenden Nutz- und Zierpflanzen an. Damit erinnert das Museum an den historischen Bischofsgarten, der sich im 18. Jahrhundert an der Stelle des heutigen Museums befand. Nach Angaben des Museums ist die Schau die erste klimaneutrale Ausstellung des Hauses.