Lernen zwischen Raketen, Angst und Minen: Für viele Kinder in der Ukraine ist das die tägliche Realität. Daran erinnert nun das UN-Kinderhilfswerk Unicef mit einem Klassenzimmer in einem Berliner U-Bahnhof.
Laute Züge im Minutentakt, Menschenmassen sprinten von Gleis zu Gleis, die Wände karg und kalt durch grüne Fliesen. Die Berliner U-Bahn ist vieles – aber sicher kein Ort für ein Klassenzimmer. Und doch kommen die Menschen, die zur Zeit auf der Suche nach der nächsten Anschlussbahn durch den U-Bahnhof Alexanderplatz hetzen, an einem solchen vorbei.
Auf der Unterführung zur Linie U2 ragt ein großer Glaskasten empor. Unter gleißendem Industrielicht stehen Schulbänke, eine Tafel, ein Lehrerpult. Was für vorbeigehende Berliner Passanten befremdlich wirkt, soll an die bittere Realität in der Ukraine erinnern: Unterricht in U-Bahn-Stationen mitten im Krieg.
“Der Krieg in der Ukraine lässt kein Kind unberührt”, sagt der Unicef-Vorstandsvorsitzende Georg Graf Waldersee am Mittwoch bei der Eröffnung des Klassenzimmers. Bis Sonntag soll der Raum dort bleiben und mahnen. Denn die Zahlen des UN-Kinderhilfswerks sind erschreckend. Allein in diesem Jahr seien in der Ukraine etwa 340 Bildungseinrichtungen zerstört oder beschädigt worden, seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 seien es mehr als 1.600 gewesen. “Doch auch im Krieg müssen Kinder in einem sicheren, geschützten und warmen Umfeld lernen können”, so Waldersee.
Daher helfe Unicef zusammen mit der Bundesregierung, Schulen in ukrainischen U-Bahnhöfen zu errichten. “Schulen sind nicht nur Orte zum Lernen, sondern bieten auch warmes Essen und die Möglichkeit, den Krieg kurz zu vergessen”, sagt Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan (SPD). Das Entwicklungsministerium habe zuletzt weiteres Geld für Unicef mobilisiert, so dass 400.000 Kinder auch künftig die Schule besuchen könnten. “Mit der gesamten Winterunterstützung des Entwicklungsministeriums werden bis zu 2,6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in diesem Winter Wärme und Strom erhalten können”, so Radovan.
Erst vor kurzem sei die Ministerin zu Besuch in der Ukraine gewesen. “Die Situation der Kinder hat mich zutiefst bewegt”, schildert Radovan ihre Eindrücke der Reise. “Wir müssen begreifen, was ein Alltag im Krieg für Kinder bedeutet.” Auch Waldersee besuchte kürzlich die Ukraine, er bestätigt Radovans Erlebnisse: “Seit fast vier Jahren leben die Kinder in Angst. Sichere Orte wie die eigene Wohnung oder eben normale Schulen stehen ihnen nicht mehr zur Verfügung.”
Die unterirdischen Schulen in den U-Bahn-Stationen eröffneten den Kindern wieder einen Raum des Schutzes und besonders einen Raum des persönlichen, menschlichen Kontakts. “Ich habe in der Ukraine Kinder erlebt, die in den Schulen im Untergrund erstmals seit Jahren wieder mit anderen Kindern spielen”, so Waldersee. Er habe Kleinkinder im Alter zwischen vier und fünf Jahren gesehen, die von gravierenden Entwicklungsstörungen betroffen seien und kaum sprechen würden. Durch den Kontakt zu den Mitschülern und Lehrern in den Schulen habe sich aber auch für diese Kinder die Lage wieder etwas gebessert.
Dass ukrainische Kinder teils wieder vor Ort unterrichtet werden können, sei auch für die Eltern von großer Bedeutung, besonders für die Mütter. In Abwesenheit vieler Männer, die an der Front kämpften, kümmerten diese sich um ihre Kinder. “Wenn die Schüler in der Schule sind, ist das die einzige Zeit, in der sich die Mütter um sich kümmern können”, sagt Waldersee. Derzeit können laut Unicef rund eine Million Kinder ausschließlich online oder in einem hybriden Format aus Präsenz- und Onlineunterricht lernen. Falle jedoch infolge der Bombardierungen der Strom aus, komme auch dieser zum Erliegen.
Die Schulen sollen die Kinder zudem auf die täglichen Gefahren an der Oberfläche vorbereiten, erzählt der Unicef-Vorstandsvorsitzende. So seien Minen und Blindgänger ein großes Risiko für die Schüler. Schätzungsweise 30 Prozent des Landes seien damit übersät, einige Kinder würden sie oft für Spielzeug halten. In den unterirdischen Klassenzimmern werde der richtige Umgang damit gelehrt.
Letztlich sollen die Schulen in den U-Bahnhöfen nur eine Zwischenstation sein, bis der Krieg eines Tages endet.