Es sind Szenen des Grauens, auch Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas sichtbar. Ein Viertel der Bewohner von Nir Oz wurden ermordet oder verschleppt. Im Kibbuz will man bis zur Befreiung der letzten Geisel kämpfen.
54 Tage brauchte es, bis Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Idee kam, sich mit den Überlebenden des 7. Oktober zu treffen. Am Mittwoch dann bat er um ein Treffen mit Mitgliedern von Kibbuzim entlang der Grenze zum Gazastreifen, die vom Terror der Hamas am härtesten getroffen wurden. Bei den Überlebenden stieß er auf Unverständnis und Verärgerung. Zu spät, zu kurzfristig, zu selektiv, so die Kritik. Auch der Kibbuz Nir Oz schlug das Treffen in dieser Form aus. Statt einige wenige Vertreter solle der Regierungschef die gesamte Kibbuz-Gemeinschaft treffen. “Wir alle, nicht nur die Vertreter der Kibbuzim, brauchen Antworten”, sagte Leiterin Osnat Peri am Mittwoch.
Ein rothaariges Baby strahlt vom Plakat an der beschädigten Haustür, in den Händen ein pinkfarbenes Plüschtier. Hinter dieser Tür hat Kfir Bibas bis zum 7. Oktober gewohnt, zusammen mit denen auf den Postern neben ihm: Bruder Ariel und Eltern Schani und Jarden. Neun Monate jung war Kfir bei seiner Geiselnahme, der jüngste der rund 240 Entführten. Das war vor 55 Tagen. Seither warten sie in Nir Oz auf Antworten.
Fragen gibt es viele. Wie konnte so etwas wie der 7. Oktober passieren? Wo war die Armee, wo der Staat? Wie geht es Kfir und den anderen Geiseln, und wann kommen sie endlich frei? “Wir alle verdienen zu wissen, warum ein Viertel unserer Gemeinschaft entführt oder abgeschlachtet wurde”, so Peri in ihrer Antwort an Netanjahu. Von rund 400 Kibbuz-Mitgliedern wurden am 7. Oktober mindestens 26 getötet und 77 mutmaßlich in den Gazastreifen entführt. 40 von ihnen sind immer noch in Gefangenschaft, darunter Kfir.
“Nir Oz ist mehrheitlich links. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die schlimmer sind als der Islamische Staat”, sagt Ron Barhat. “Die”, das sind die Terroristen der Hamas, die am Morgen des 7. Oktober an vier Stellen in den Kibbuz eindrangen und Tod und Zerstörung brachten. Bahat ist einer der wenigen, der gleich am Tag danach zurückkehrte, weil “das hier Zuhause ist”. Jetzt geht er von Haus zu Haus, vorbei an dem verbrannten Schaukelpferd, an der verkohlten Waschmaschine und dem Fenster, dass den Blick freigibt auf das blutverschmierte Kinderzimmer. Er erzählt vom Schicksal derer, die hier zuhause waren.
Da ist das Haus der Livschitz zum Beispiel; Oded, der Journalist der früheren linken Zeitung “Al-Hamischmar”, der als einer der ersten über das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern in Beirut 1982 berichtete. In Livschitz’ zerstörtem Wohnzimmer steht das verbrannte Skelett eines Klaviers. Oded habe keine Noten lesen können, habe aber mit seiner Musik alle verzaubert, sagt Bahat. Odeds Frau Jochevet ist inzwischen frei. Um Oded bangen sie noch.
“Wir glaubten an den Frieden, haben als Freiwillige Bewohner von Gaza in Krankenhäuser gefahren; dachten, wir hätten auf der anderen Seite Partner für den Frieden”, sagt Benni Avital vom kibbuzeigenen Notfalleinsatzkommando. Das alles habe sich geändert an jenem 7. Oktober, “um 180 Grad, als wir verstanden, dass sie kommen, um zu töten, alle”.
Nir Oz gleicht einem Schlachtfeld und einer Geisterstadt. Knapp 1,6 Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt, liegt der Ort in der Sperrzone des israelischen Militärs. Die Präsenz der Opfer und Vermissten ist deutlich spürbar. Schwarze, blaue und rote Aufkleber auf den zentralen Postkästen neben dem gemeinsamen Speisesaal markieren den Status eines jeden Bewohners: entführt, ermordet, freigelassen. Auf den Esstischen vor leeren Stühlen: Fotos von denen, die noch oder für immer fehlen.
Für die Ermordeten brennen Kerzen im Eingang, ihre Namen auf Traueranzeigen am Anschlagbrett. Neben hebräischen Namen auch fremdländische. Die Hamas hat auch vor ausländischen Arbeitern nicht haltgemacht. Ein Feldarbeiter aus Tansania wurde aus Nir Oz entführt und später für tot erklärt; ein entführter philippinischer Pfleger ist inzwischen freigekommen.
Am härtesten traf es die thailändischen Feldarbeiter. “Elf von ihnen wurden ermordet, fünf entführt”, sagt Irit Lahav. Über dem Wohnviertel der Thai zwischen dem Kibbuz und den weiten Gemüsefeldern liegt der Geruch von Verwesung. Ein blutig-verschmierter Handabdruck auf dem Weg zum Schutzraum ist eine Warnung für das, was ein paar Meter weiter wartet. Blut an der Tür, an den Wänden, der Decke, überall.
In zwei Wellen fielen sie über Nir Oz her, erzählt Eran Smilanski vom Notfallkommando. Erst “die Kämpfer zum Töten”, dann “die Zivilisten zum Stehlen und Kidnappen”, alles in allem rund 700 Leute. Stunden habe das Grauen gedauert, dann plötzliche Stille. Das Bild, das sich ihnen geboten habe, sei apokalyptisch gewesen; “wie Armageddon”. “Ich dachte, es ist einfacher”, sagt Benni Avital, der erstmals seit dem 7. Oktober nach Nir Oz zurückgekommen ist. Der Kampfzustand habe ihn vor Gefühlen und Gedanken bewahrt. “Erst jetzt beginne ich zu realisieren und zu verstehen.” Beide versuchen, den Tag zu rekonstruieren. Vergeblich. Viele Details entwischen der Erinnerung.
Einer Frage wollen sie sich in Nir Oz noch nicht stellen: wie es weitergehen soll mit dem Kibbuz an der Grenze zu Gaza. “Wir können nicht in Nir Oz leben, solange unsere Entführten noch in Gaza sind”, sagt Benni Avital. Die Gemeinschaft sei klein; jeder kenne jeden. “Wir brauchen sie alle zurück”.
Auch in Sachen Status von Gaza brauche es dramatische Veränderungen, bevor sie zurückkommen könnten. “Unser Leben hier waren 99 Prozent Paradies und 1 Prozent Hölle. Wenn die Hölle ausbrach, wussten wir, dass es für eine kurze Zeit ist – und haben es ausgehalten”, sagt er. “Jetzt aber haben wir 1 Prozent Paradies und 99 Prozent Hölle.”
Als vor einer Woche die ersten Geiseln aus Nir Oz freikamen, sei “ein Seufzer der Erleichterung” durch die Gemeinschaft gegangen, sagte Osnat Peri. Doch noch immer stünden Frauen, Männer, Kinder, Mütter, Väter, Großväter und Großmütter auf der Liste der verbliebenen Entführten. In Nir Oz will man “den Kampf fortsetzen, bis die letzte Geisel freigelassen ist”.