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Keine Bühne für Kyrill

Mit Beklemmung begeht Deutschland den 8. Mai 2022, den Tag der Befreiung

77 Jahre nach Kriegsende tobt seit fast drei Monaten ein brutaler Vernichtungskrieg auf europäischem Boden, als ob die „Dämonen“ des letzten Jahrhunderts wieder auf­er­stehen.  Friedensethische Gewissheiten stehen in Frage

Von Ellen Ueberschär

Der 8. Mai 1945 war der Tag der Befreiung. Als Richard von Weizsäcker es wagte, als erstes bundesdeutsches Staatsoberhaupt diesen Satz auszusprechen, war das Land geteilt und die bedingungslose Kapitulation Deutschlands lag vierzig Jahre zurück. Im selben Jahr, 1985, bekannte sich die Evangelische Kirche in Deutschland erstmals zur Demokratie als Staatsform, die die „un­antastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet.“  

Zu diesem Zeitpunkt waren die Wehrmachtsverbrechen in der Ukraine, einem der Hauptschauplätze des Holocausts und der ­Massaker an der Zivilbevölkerung, so gut wie unbekannt. In Babyn Jar starben mehr als 30000 jüdische Bürger. Poltawa und Korjukiwka bei Tshernihiv, wo die Wehrmacht ­tausende Zivilisten ermordete, sind bis heute nur Fachleuten ein Begriff. Sechs Millionen Ukrainer kämpften in der Roten Armee, nicht selten an vorderster Front dem Sterben im Kampf als erste ausgeliefert. Die Evangelische Kirche tat sich 1945 schwer mit einer realistischen ­Einschätzung ihres Anteils an der nationalsozialistischen Katastrophe. Quälende fünf Monate nach Kriegsende rang sie sich zum Stuttgarter Schuldbekenntnis durch. Der Druck aus der Ökumene hatte Wirkung.

Mit Beklemmung blicken wir auf den 8. Mai 2022. Seit fast drei Monaten tobt ein brutaler Vernichtungskrieg auf europäischem Boden, als ob die Dämonen des letzten Jahrhunderts wieder auferstehen. Es gibt Ursachen und Folgen dieses Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, die tagtäglich auf allen ­Kanälen und an den Küchentischen debattiert werden. Friedensethische Gewissheiten, die sich auf dem langen Weg von 1945 bis heute ­gefestigt hatten, fallen in sich ­zusammen. Das Festhalten an den friedensethischen Positionen der 1980er Jahre erweist sich als ebenso untauglich wie der Verweis auf die Erfahrungen der Friedlichen Revolution. Grundverschieden sind die historischen Konstellationen.  

Dabei kann die Evangelische ­Kirche stolz sein auf ihre demo­kratische Lernfähigkeit seit 1945. Die Anerkennung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit führte aus den deutschnationalen Verirrungen ­heraus. 

Heute gilt es, dieses Bekenntnis der Stärke des Rechts gegen einen Aggressor durchzusetzen, der das Recht des Stärkeren auf unmenschliche Weise durchsetzen will. Der Ernstfall für den Einsatz rechts­erhaltender Gewalt ist eingetreten. Um Freiheit und Demokratie zu kämpfen, beschädigt keinen Pazifismus, sondern bestärkt die Menschenrechte. Alle gesellschaftlichen Bereiche, allen voran die Wirtschaft, tragen die harten Sanktionen gegen Russland mit. 

Die Kirchen winden sich. Der Weltrat der Kirchen hat vor Ostern einen dringenden Appell an Patriarch Kyrill gerichtet, sich von dem verbrecherischen Krieg zu distanzieren. Ohne Wirkung. Seine gotteslästerliche und lügenhafte Verteidigung des Angriffskrieges braucht eine deutliche Antwort – zum Beispiel den Ausschluss der Russisch-orthodoxen Kirche und ihrer ­gesamten Führungsspitze aus der Weltgemeinschaft der Kirchen. Ein solcher Ausschluss träfe auch die mutigen Priester und Gläubigen, die dem Bösen widerstehen, die den Krieg Krieg nennen und dagegen unter Lebensgefahr protestieren. Aber gerade sie haben ein deutliches Zeichen unsererseits verdient. 

Die Kirchen in Deutschland müssen ihrer historischen Verantwortung gerecht werden. Nicht auszudenken, wenn der Ökumenische Rat der Kirchen nach acht Jahren im September dieses Jahres wieder ­zusammentritt und auf deutschem Boden diesem Patriarchen oder ­seinen Gesinnungsgenossen eine Bühne bietet.

Ellen Ueberschär ist Theologin und ­Vorständin der Heinrich-Böll-Stiftung.