UK 30/15 Die Bibel lesen (Seite 3)
Sie zitieren Kants Kategorischen Imperativ wie folgt: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“.
Aus welcher Quelle auch immer dies „Zitat“ stammen mag, es enthält zwei schwerwiegende Fehler, die sofort auffallen, wendet man sich Kants Kategorischem Imperativ zu, wie er ihn selbst ausformuliert hat, z. B. in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden: „Handle so, daß du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (Friedensschrift in Reclam 1984, S. 44). Es wird deutlich:
• Durch meinen Willen kann keine Handlungsmaxime, was Handlungsregel heißt, zu einem allgemeinen Gesetz werden. Ich muss wollen können, dass sie dies wird, heißt, ich muss bzgl. der Handlungsregel, der ich folgen will, mir vorstellen können, dass sie zu einem für alle Menschen gültigen Gesetz werden könnte.
• Natürlich(!) nicht zu einem Naturgesetz. Das hieße, dass ich Kraft meines Willens Naturgesetze beeinflussen könnte, etwa, dass Dinge nicht mehr runter, sondern rauf fielen. Hier versagt die Vorstellung. Naturgesetze sind in Kants Philosophie die Gesetze, denen gegenüber ich als Mensch unfrei bin, da diese Art von Gesetzen feststehen, ich sie erforschen, sie erkennen kann, indem ich ihnen Regeln gebe, aber nicht ändern kann.
Frei bin ich im moralisch-sittlichen Bereich, dessen oberstes Gebot/ Gesetz das moralische Gesetz ist, das der Kategorische Imperativ ausformuliert. Dies Gesetz gibt der Mensch sich selber aus seinem eigenen Vernunftvermögen heraus und hier liegt Autonomie, Freiheit und Würde des Menschen. Handlungsregeln, geltende Gesetze, moralisches Handeln hat hier nach Kant einen Maßstab, der kein Handlungskatalog, sondern Richtlinie sein will.
• Von daher geht auch der Vergleich mit der Regel „Was du nicht willst, das man dir tu, das für auch keinem andern zu“ in die Irre, denn in dieser Regel schließe ich ganz einfach von mir auf andere, glaube, dass das, was mir gefällt oder auch nicht einem anderen genauso gefallen müsste oder nicht. Wenn man sich die verschiedenen Gefühlslagen der Menschen anschaut, kann aus dieser Regel sicher kein allgemeines Gesetz gezogen werden!
Kant hat übrigens von seinem kategorischen Imperativ gut 50 verschiedene Ausformulierungen verfasst, wie z. B. sein Rechtsimperativ heißt: „Eine jede Handlung ist r e c h t, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ (Metaphysik der Sitten 230-231); die Kernaussage ist aber immer dieselbe, dass nämlich mein Handeln unter einer Regel stattfinden muss, die ich mir als allgemeines Prinzip für Gesetzmäßigkeit vorstellen kann.
Ich hab mir an diesem Sonntagabend die Zeit für diese Mail genommen, weil auf Kants Leistung z. B. unsere Rechtsstaatlichkeit, die Trennung von Staat und Religion und die Allgemeinverbindlichkeit der Menschenrechte fundiert sind, und man weiter häufig damit konfrontiert wird, dass die meines Erachtens recht platte Sprichwortregel fälschlicherweise mit dem Kategorischen Imperativ in eins gesetzt wird.
Als Tipp: Kant hat sich in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ auch zu Teilen der Bergpredigt geäußert und sie in Verbindung mit dem moralischen Gesetz gebracht (KPV 145-152), was nicht nur für Philosophen von Gewinn ist zu lesen!
Edith Nemetschek, Löhne
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