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Kann man Sterben lernen?

Der Tod droht unausweichlich über jedem Leben. Ist es möglich, sich mit diesem Wissen zu versöhnen? Der Theologe und Buchautor Jörg Ahlbrecht hat einen Versuch unternommen

Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen, heißt es in einer alten Antiphon aus dem 11. Jahrhundert. Eine uralte Erfahrung, die jeden Menschen früher oder später trifft: Dem Tod entgehen wir nicht. Die mittelalterlichen Darstellungen des Totentanzes führen es jedem vor Augen: Jeden nimmt er mit, Könige wie Bettler, Greise und Kinder, Männer und Frauen.
Aber hat das Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes eigentlich Auswirkungen auf unser Leben? – Erstaunlich wenig, hat der Pfarrer und Buchautor Jörg Ahlbrecht beobachtet. Die meisten Menschen versuchen, so zu leben, als ob es den Tod nicht gäbe. Sie verdrängen die Endlichkeit und Begrenztheit ihrer Lebenszeit und jeder Form von Beziehung, die sich darin abspielt. Und wenn der Tod sich schließlich nicht mehr verdrängen lässt, dann reagieren sie, als hätte man sie beleidigt.

Jeder weiß es – niemand will es wahrhaben

Wieso ist das so?, fragte sich Ahlbrecht. Wieso blenden wir die eigene Sterblichkeit so konsequent aus und lassen dem Tod keinen Platz im Leben? Dabei war doch die Bitte „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90,12) schon in alttestamentlicher Zeit eine Mahnung gewesen, auf das Wesentliche im Leben zu achten.
Menschen, die Todesnähe erlebt haben, berichten häufig von einer neuen, intensiveren, bewussteren Haltung dem Leben und Sterben gegenüber. Wenn Grenzerfahrungen zu einer solchen Veränderung führen, so überlegte Ahlbrecht – wäre es dann vielleicht möglich, Veränderung auch auf andere Weise zu erreichen?
Der Theologe beschäftigt sich schon länger mit geistlichen Ritualen im Alltag und geistlichem Wachstum. So lag für ihn der Gedanke nah, nach einer Art Einübung des Todesgedankens zu suchen – „eine kleine Dosis Sterben und Endlichkeit, ganz verdünnt, aber regelmäßig zu sich genommen“, wie er formuliert. Oder, um es mit dem Buchtitel zu sagen: „Die großes Kraft der kleinen Tode“. Diese kleinen Dosierungen Endlichkeit will Ahlbrecht dem Leser mit konkreten Übungen anbieten. Das Ziel dabei: ein Leben, das gerade in seiner Endlichkeit bewusster wahrgenommen und gestaltet wird.
Aber funktioniert das wirklich – den Tod in kleinen Schritten ins Leben zu integrieren? Die Übungen, die der Referent der Gemeindeaufbaubewegung „Willow Creek“ unter der Überschrift „Kleine Tode“ anbietet, sind dann doch nicht geeignet, die zerstörerische Macht des Todes zu zähmen und sie ins Leben zu integrieren. Auch wenn sie gut biblisch sind – Liebe üben, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Großzügigkeit, Treue, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung –, so  bleibt doch die Tatsache, dass  Tod und Endlichkeit alles zunichte machen, was wir einüben. Homöopathie hilft da nicht weiter.
Der Theologe Eberhard Jüngel mahnt in seinem Buch „Tod“: „Der Glaubende ist kein Sterbenskünstler. Er kann es schon deshalb nicht sein, weil das eigene Ich bei solchen Künsten unerträglich überschätzt wird.“
Angesichts des Todes bleibt uns nur, unsere Ohnmacht einzugestehen. Die einzige Macht, die wir dieser totalen Verneinung alles Lebens entgegensetzen können, ist die Hoffnung, die der Apostel Paulus im 1. Timotheusbrief so formuliert: „Jesus Christus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.“ Dieser Bruch mit allem, was wir kennen und können, ist so radikal, dass es kaum möglich ist, sich ihm in kleinen Dosen anzunähern.
Ahlbrechts Buch kann also nicht als Rezeptbuch verstanden werden, mit dem wir unseren Tod und unser Leben in den Griff bekommen. Das wäre eine Form der Selbsterlösung, die dem Evangelium direkt zuwiderliefe. Aber Anregungen für das Nachdenken über unseren Umgang mit dem Leben, dem Sterben und dem Tod gibt es allemal.

Jörg Ahlbrecht: Die große Kraft der kleinen Tode. Memento mori – ein vergessener Weg zu einem erfüllten Leben. SCM-Verlag, 164 Seiten, 12,95 Euro.