Die Brüder Grimm nahmen 1838 das gigantische Projekt des Deutschen Wörterbuchs in Angriff. Der 1786 geborene Wilhelm hatte bis zu seinem Tod 1859 alle Wörter bearbeitet, die mit dem Buchstaben „D“ beginnen. Der 1785 geborene Jacob starb 1863 über dem Wort „Frucht“. Erst 1961 hatten ihre Nachfolger das Monumentalwerk abgeschlossen. Es präsentiert die Wörter in ihrem literarischen Verwendungszusammenhang, wie Wilhelm Grimm 1846 erklärte: „Das Wörterbuch soll die deutsche Sprache umfassen, wie sie sich in drei Jahrhunderten ausgebildet hat: es beginnt mit Luther und endet mit Goethe.“
Fiktives Gespräch zwischen Luther und Goethe
Luther (1483-1546) und Goethe (1749-1832) führen in einer Sonderschau der Kasseler Grimmwelt ein fiktives Gespräch: Dem Deutschen Wörterbuch entnommene Zitate von ihnen werden auf eine Wand projiziert. Sowohl der Ausstellungsbesucher, als auch jedermann sonst in der Welt kann an die Stelle Goethes treten und so zu diesem Gespräch „sein Scherflein beitragen“. Und zwar per SMS unter der Nummer 0163 6651 028. Die eingetippten Worte erscheinen unter dem Autorennamen „Ich“ auf der Ausstellungswand. Es folgt eine Antwort von Luther, die in der Schau und auf dem Mobiltelefon zu sehen ist.
„Sein Scherflein beitragen“, „Unser täglich Brot“, „In deiner Hand“ und „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ gehören zu den elf Redewendungen, denen in der Ausstellung künstlerische Installationen gewidmet sind. Die Redensarten entstammen Martin Luthers Schriften, vor allem seiner Übersetzung der Bibel ins Deutsche. Die Schau erweist, wie der Reformator unser Deutsch geprägt hat – und wie sich das im Wirken der Brüder Grimm spiegelt. Damit der Besucher nicht „im Dunkeln tappt“ und die Schau nicht zum „Buch mit sieben Siegeln“ wird, steht Personal bereit, das zum Gebrauch der Installationen anleitet.
Den Titel „Luther und Grimm wortwörtlich“ will Kurator Friedrich W. Block so verstanden wissen: „Wortwörtlich meint, nicht starr am Buchstaben des Gesagten zu kleben, sondern eben genau auf die Wörter zu schauen und zu hören.“ Sie kommen analog und digital, statisch und bewegt, geritzt, gedruckt, programmiert, nach Fingerwischer über den Bildschirm, aus dem Lautsprecher, über Kopfhörer oder als dreidimensionales Objekt daher. Auf einem großen Quader liest man: „Alles hat seine Zeit“, die moderne Variante von Luthers „Ein jegliches hat seine Zeit“. Der Quader setzt sich aus Abreißblöcken unterschiedlichen Formats zusammen. Auf die Rückseiten der Blätter sind von der Schriftstellerin Ellen Wesemüller verfasste Texte zum Thema Zeit gedruckt. Aus jeder der präsentierten Redewendungen erfreut sich ein Hauptwort besonderer Beachtung.
Viele Ausdrücke Luthers werden heute noch genutzt
Die Installation „Zu Staub werden“ setzt einen Plattenspieler ein. Der aufgelegten Schallplatte kann man per Kopfhörer lauschen. Sie macht den Staub als Knistern und Knacken hörbar und unterhält mit einem witzigen Sprechtext von Timo Bunke. Was uns der Staub angeht, erfährt man am Ende der Darbietung: „Früher oder später – tanzt Du mit uns.“
Luther hat zahlreiche zusammengesetzte Wörter (Komposita) geschaffen, die noch heute gern benutzt werden, etwa Freigeist, Lückenbüßer oder Machtwort. Darauf weist eine riesige Murmelbahn hin, die „Perlensau“ getauft wurde. Sie ist mit billardgroßen Kugeln bestückt, auf denen je ein Wort steht. Nach dem Zufallsprinzip bilden die nebeneinander zu liegen kommenden Kugeln möglicherweise nie zuvor gelesene neue Wortschöpfungen. Gut bekannte Komposita leuchten hingegen in der Installation „Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen“ auf. Wortverbindungen wie Arbeitseifer, Arbeitstempo, Handarbeit, Saisonarbeit und Sklavenarbeit machen uns die Vielfalt der Bedeutungen und Wertungen deutlich, die mit dem Begriff „Arbeit“ verbunden sind. Die christliche Dimension des Begriffs bringt uns das aus einem Lautsprecher erklingende Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg nahe.
Die bis heute geläufige Redewendung „Perlen vor die Säue“ werfen übernahm Luther aus der Volkssprache. In seinem mit Blick auf die Bibelübersetzung verfassten „Sendbrief vom Dolmetschen“ erklärt der Reformator, dass er „rein und klar deutsch geben möchte“.
Er wollte keine wörtliche, sondern eine sinngerechte Übersetzung der Bibel liefern, die jedem verständlich sein sollte: „Denn man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, sondern man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen, da verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“ Die wie ein Orchester mit Resonanztafeln aus Holz und Metall inszenierte Installation „Aufs Maul geschaut“ hebt anhand von acht Redewendungen die lautlichen Aspekte, die spezifische Rhythmik und klanglichen Wiederholungen hervor, die Luthers Sprache eingängig und einprägsam machen. Etwa den dreifachen Gleichklang von „au“ in den Wörtern auf, Maul, geschaut. Oder den Gleichklang des Anlauts benachbarter Wörter: Sieben Siegel.
Deutsches Wörterbuch mit protestantischer Färbung
Luthers bildhafte und unmittelbare Sprache sowie seine perfekte Beherrschung aller Register des sprachlichen Ausdrucks beurteilten die Grimms als vorbildlich. Der die Kleinschreibung verfechtende Jacob verkündete: „Luthers sprache muß ihrer edlen reinheit, ihres gewaltigen einflußes halber, für kern und grundlage der neuhochdeutschen sprachniedersetzung gehalten werden.“ Aber katholische Rezensenten der ersten Teillieferungen des Deutschen Wörterbuchs bemängelten dessen Lutherlastigkeit. Die streng im reformierten Glauben erzogenen Brüder Grimm räumten die „protestantische Färbung“ des Wörterbuchs ein. Diese folge aus der „überlegenheit der protestantischen poesie und sprachbildung“.
Die Ausstellung ist zu sehen bis 31. Oktober in der Grimmwelt in Kassel. Di.-So. 10-18 Uhr, Fr. 10-20 Uhr. Weitere Informationen unter Telefon (05 61) 5 98 61 90, Internet: www.grimmwelt.de. Eintritt in die Sonderausstellung: 5 Euro.