Unter dem Titel „Am Ende der Illusion“ hatte das Amt für kirchliche Dienste (AKD) der EKBO am 27. September zu einem Werktag eingeladen. Gekommen sind rund 150 Menschen nicht nur aus der EKBO, sondern auch aus anderen Landeskirchen. Nichtberufliche und berufliche Mitarbeitende sind da. Auch Menschen aus kirchenleitenden Funktionen, wie etwa die Pröpstin Christina- Maria Bammel und der Bischof Christian Stäblein. Dem ersten „warm-up“ der Teilnehmenden mit dem Impuls „Stellen Sie sich vor, die EKBO will in den nächsten fünf Jahren die innovativste Landeskirche der EKD sein!“, folgt eine weit angelegte Wahrnehmung der Realität.
Unsicherheit, weil keiner weiß, was kommt
Per Videobotschaft hören wir Stimmen kirchlich engagierter Menschen: „Wir haben niemanden gefunden, der sich für die Gemeindekirchenratswahl aufstellen lässt, keiner kommt mehr zu unseren Veranstaltungen, es gelingt uns nicht, Jugendliche zu motivieren, Überalterung, Gebäudelast“ — so nur einige der Stimmen.
Die Moderatoren, Ursula Hahmann und Valentin Dessoy, beide engagiert in der Beratung, dem Coaching und Consulting vor allem kirchlicher Einrichtungen, führten den Begriff „VUKA“ für die Wahrnehmung der kirchlichen Realität ein: Volativität, das heißt, es gibt unsichere Veränderungen, Unsicherheit, weil keiner weiß, was kommt. Komplexität, denn es ist so vieles, was gerade passiert. Und Ambiguität, die Mehrdeutigkeit der Wahrheiten. Diese vier Begriffe vor allem prägen den derzeitigen Zustand der sozialen Organisation Kirche, so die Einschätzung der Moderatoren.

Vorgelegte Statistiken zeigen: Die Zahl der Kirchenmitglieder nimmt ab. Es gibt weniger Taufen als Beerdigungen und eine stetig steigende Zahl von Austritten. Die Finanzen werden knapper, der Gottesdienstbesuch nimmt ab. Nicht mehr ganz am Anfang der Veranstaltung, aber fast, kam Bischof Christian Stäblein mit einem Beitrag zu Wort: „Die Menschen werden nicht aufhören, die Kirche zu verlassen, sie sagen: Wir brauchen euch nicht. Das Ende der Illusion ist die Vorstellung davon, dass wir uns nur mehr engagieren müssten, dann kommen die Menschen wieder.“ Neu sei, dass die Kirche an Kipppunkten der Institution ist. „Wir machen so viel und dennoch wird die Kirchenorganisation sterben. Aber das Evangelium wird leben, wir wissen nur noch nicht in welcher Gestalt.“
Kirche im disruptiven Veränderungsprozess
Lieber hätte Bischof Stäblein, wie er meint, etwas nach vorn Weisendes am Schluss der Veranstaltung gesagt. Doch „wir sind am Ende der Illusion, dass es immer so weiter gehen könnte, wie es jetzt ist“. Valentin Dessoy erklärt, die Kirche sei in einem disruptiven Veränderungsprozess, etwas Bestehendes löse sich auf. Diesem muss sie sich stellen, dabei kommt es auf Veränderungen im „mindset“, der Geisteshaltung, an, also dem was die kirchliche Arbeit im Innersten ausmacht.

Das wodurch unsere Innovationen, unser Lernen, unsere Veränderungen und unsere Strategie bestimmt sind. „Wandlung — Sterben — Auferstehen, das ist doch der wesentliche Teil des Systemcodes von Kirche.“ Warum tun wir etwas? Wozu tun wir etwas? Welches ist der Sinn und Zweck der Organisation? Dienst am Menschen, Segnen, Gemeinschaft leben, Gott entdecken, seine Liebe in die Welt bringen – dies seien nur einige Punkte, so Dessoy, die zum „purpose“, dem Zweck der Kirche gehören. Nach den Statistiken sind die Teilnehmenden nun auf gefordert, mithilfe der Methode „Cockpit – Freiraum schaffen“, einem einfachen mathematischen Modell, zu berechnen, wie effektiv die Arbeit der Kirche in den letzten Jahren war: der Aufwand, die Breiten- und Tiefenwirkung sowie die Risiken und Chancen.
Gottesdienst auf dem Prüfstand
Es erstaunt nicht, dass so viele der klassischen kirchlichen Unternehmungen wie Besuchsdienst, Gottesdienst, Chorarbeit und andere mehr auf den Prüfstand gehören. Denn das Festhalten an Bestehendem, das nur wenig Wirkung erzielt, bindet Ressourcen, die potenziell für Anderes, Neues eingesetzt werden könnten. Die Ressourcen sind aber deutlich begrenzt und werden immer begrenzter. Darum muss sich Kirche die Frage stellen: „Was erzielt die größte Wirkung im Sinne des Sendungsauftrags der Kirche?“
Wer am Ende des Werktags erwartet hatte, mit einem Paket großer Innovationen nach Hause zu gehen, wird wahrscheinlich desillusioniert gewesen sein. Aber dieser Werktag war ein guter Anfang, sich jetzt auf den Weg zu machen, alles auf den Prüfstein zu stellen, was die bisherige Struktur und die Inhalte der sozialen Organisation Kirche ausmacht. Werkzeuge dazu gab der Tag reichlich an die Hand. Vor allem aber den Mut zu ehrlichen Einsichten und zu Aufbrüchen. „Niemand hat die Wahrheit in der Tasche“, resümierte Pröpstin Christina-Maria Bammel am Schluss. „Wir müssen wohl auf die Knie gehen und uns selber recyclen, aber richtig.“

Die Arbeit daran wird weitergehen, für den März 2024 ist eine Fortsetzung des Werktags geplant. „Bei aller Ungewissheit ist Passivität keine Option. Und somit können wir am Ende der Illusion‘ mit Sicherheit sagen: Es geht weiter“, so der auswertende Nachsatz des AKD auf seiner Internetseite nach dem Werktag im Rückblick auf diesen wirklich innovativen Tag.