Athen/Jerusalem. Noah hatte 70 Nachkommen, die zwölf Apostel wurden auf 70 Jünger aufgestockt – in der Bibel steht die Zahl 70 für die Vervollständigung. Nun hat sie auch für den Stader Landes-superintendenten Hans Christian Brandy eine neue Bedeutung: Nach 70 Tagen hat er es erreicht: Jerusalem, das Ziel seiner Radpilgerreise, die im schottischen Iona begonnen hat.
Bis nach Athen hat es der 60-Jährige auf dem Fahrrad geschafft, bevor er seine letzte Etappe durch Israel antritt. „Als der Parthenon zum ersten Mal vor mir auftauchte, hatte das schon etwas Erhebendes“, schreibt er auf seinem Blog. Nach einem Besuch der Akropolis geht es für Brandy in die Deutsche Seemannsmission, wo er am eigenen Leib die Gastfreundschaft erfährt, für die die Einrichtungen bekannt sind. „Es war, wie nach so vielen Wochen in der Fremde ein wenig nach Hause zu kommen.“
Am nächsten Tag geht es zum Flughafen. Und Brandy wäre nicht Brandy, wenn er nicht auch diese 42 Kilometer auf dem Rad zurückgelegen würde – auch wenn ihn ein Teil der Strecke über die Autobahn führt. Bevor der Landessuperintendent in den Flieger steigen darf, muss er ein 15-minütiges Einreiseinterview über sich ergehen lassen. „Ich hatte den Eindruck, ein alleinreisender Mann ist suspekt.“
“Ein Traum!”
Nach seiner Ankunft in Tel Aviv schreibt er überwältigt: „Als ich ins Freie kam, konnte ich nicht anders, als einmal kurz niederzuknien und die Erde mit der Hand zu berühren. Jetzt war ich also wirklich im Heiligen Land. Ein Traum.“ Für ihn ist es nach 1980 der zweite Besuch in Israel. Auf dem Fahrrad erkundet er die „weiße Stadt“ mit ihrer Bauhausarchitektur.
Während Tel Aviv ein Paradies für Radfahrer ist, ist alles außerhalb eher das Gegenteil – alternativlose Autobahnen und versandete Wege bringen Brandy an seine Grenzen. Bei seiner Ankunft in Caesarea stellt er hungrig fest: Das nächste Restaurant ist im Hafen – 4,5 Kilometer entfernt. „Auf diese Weise war ich dann aber im historischen Hafen von Caesarea, von Herodes errichtet und in der Geschichte, etwa bei den Kreuzzügen, immer wieder wichtig.“ Hier kommt Brandy nicht wie gedacht in einer christlichen Tagungsstätte, sondern bei einem aus Schottland stammenden YouTube-Prediger unter, der auf seinem Kanal „Kenny Russell, Israel“ die hebräischen Wurzeln des Evangeliums deutlich machen will.
Weiter geht es nach Galiläa zum See Genezareth. Als Brandy das Schild „Nazareth 47 KM“ liest, „wurde mir innerlich wirklich präsent, wo ich hier bin: der Ort, an dem Jesus gelebt und gewirkt hat.“ Diese Orte beginnen sich nun zu häufen. Er besucht den „Berg der Seligpreisung“ und die „Brotvermehrerkirche“.
151 Kilometer an einem Tag
Der Nahrungsmangel in der biblischen Geschichte erinnert Brandy an die Situation der evangelischen Kirche in Deutschland. „Wir müssen ehrlich auch oft sagen: Wir haben auch nur ganz wenig. Aber dieser Ort hier erinnert daran, dass Gott genau mit dem, was da ist, etwas machen kann.“ Eine Ermutigung für seine Arbeit.
Brandy fährt durch den Golan und das Jordantal nach Jericho – 151 Kilometer an einem Tag und damit das längste Teilstück der Tour. Je weiter er gen Süden kommt, desto mehr wird die Landschaft zur Wüste. Er passiert die Oasenstadt Jericho, die wohl älteste Stadt der Welt, fährt zur Stelle des Jordans, an der der Taufe Jesu gedacht wird, über Qumran, dem Ort, an dem 1947 biblische Schriften gefunden wurden, weiter ans Tote Meer.
Es war noch einmal steil und heiß. Nun bin ich am 70. Tag meiner Pilgerradtour am Ziel. Bei aller Wehmut über das Ende: Ich bin unglaublich erfüllt und dankbar. Es war einfach großartig.
DANKE!https://t.co/75d6ZZpln5 #zeitfürfreiräume pic.twitter.com/eLiACpMMo9— Hans Christian Brandy (@hans_brandy) 24. August 2019
Und dann ist es da: das Ende der Tour. Nach 70 Tagen fährt Brandy durch das Damaskustor nach Jerusalem ein. Er hat für die 5825 Kilometer lange Strecke benötigt, 37 486 Höhenmeter überwunden und 372 Stunden auf dem Fahrrad gesessen.
Mehr als Statistik
Doch die Strecke war mehr als Zahlen und Statistik, resümiert er. Es war die Erfahrung, dass sich das Alleinsein nicht einsam anfühlt, dass Zeit ein knappes Gut ist. Dass die Überschreitung von Grenzen – nicht nur Landesgrenzen, sondern auch die des eigenen Körpers – intensive und beglückende Erfahrungen ermöglicht. Und dass die Tour auch eine Reise zu sich selbst war.
Und wie fühlt es sich an, am Ziel zu sein? „Die großen Emotionen blieben jetzt aus“, schreibt er. „Keine Tränen, kein Jubel. Etwas Wehmut, ja. Aber vor allem eine große, stille Dankbarkeit. Das, was ich erträumt hatte, ist genau so wahr geworden.“
Info
Nachlesen kann man Brandys Reisenotizen auf dem Blog brandy-pilgerblog.wir-e.de