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In der Lieferhölle

Sie sind in allen großen Städten in Deutschland unterwegs: Junge Männer, meist mit Migrationshintergrund, die mit würfelförmig-klobigen Rucksäcken auf ihren Fahrrädern durch die Straßen hetzen. „Rider“, wie sie in der Szene genannt werden, die im Auftrag von Online-Lieferdiensten wie Foodora, Deliveroo oder Lieferando per App bestelltes Essen von Restaurants zum Kunden nach Hause liefern. Orry Mittenmayer war lange Zeit einer dieser Kuriere. Unter dem Titel „Ausgeliefert“ hat er ein Buch über seinen Job geschrieben – ein Blick in den Abgrund ausbeuterischer Jobs.

„Das war wilder Westen“, berichtet der heute 32-Jährige am Donnerstagabend bei einer Lesung im Bremer Gewerkschaftshaus über die Bedingungen, als er 2016 bei Foodora anfing. Auf Einladung der Linken-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft ist er von Kassel in die Hansestadt gekommen, um sein Buch vorzustellen und mit Gewerkschaftern darüber zu sprechen, was sich seit seiner ersten Tour verändert hat.

Tatsächlich habe sich etwas getan: „Früher waren wir als Rider unsichtbar, mittlerweile ist die öffentliche Wahrnehmung geschärft“. Einfach war der Weg dahin nicht, aber das kennt Mittenmayer. Er ist schwarz, außerdem wurde er mit einer schweren Hörschädigung geboren. Deshalb trägt er ein Cochlea-Implantat, mit dem er hören kann.

Mit einer Ausbildung zum Buchhändler ist er in die Arbeitswelt eingestiegen. Auch da gab es schon Diskriminierungen, etwa durch das Ehepaar, das ihn für eine Reinigungskraft hielt und nach dem richtigen Buchhändler fragte. Oder durch den Mann, der ihn anmotzte, er solle seine MP-3-Stöpsel aus dem Ohr nehmen: „Nach meinem Hinweis, dass das meine Hörgeräte seien, raunzte er mich empört an, dass ich ihm das gefälligst vorher mitteilen und ihn nicht aufs Glatteis führen solle.“

Als Fahrradkurier befand er sich dann gefühlt im freien Fall, was die Arbeitsbedingungen anging. „Arbeitsmittel wie Räder und Handys, an das Wetter angepasste gute Kleidung, das mussten wir alles selbst mitbringen“, blickt Orry Mittenmayer zurück.

Flexible Arbeitszeiten, Sport und frische Luft – so lautete die Jobbeschreibung für das, was ihn erwartete. „Das war aber nicht alles“, sagt der mittlerweile wohl bekannteste Ex-Radkurier Deutschlands. Denn wer fährt, steht nach seinen Beschreibungen unter einem enormen Druck.

Dafür sorgten schon die Firmen-Apps, die die Rider auf ihr Handy laden müssten und mit der die Unternehmen rund um die Uhr Touren, Standorte und Pausenzeiten überwachten, kurz die gesamte „Lieferhölle“. „So nannten wir Rider das Universum, in das wir uns tagein, tagaus wagten“, beschreibt es Mittenmayer und spricht von schlechter Ausstattung und Sicherheitsmängeln. Um die Gesundheit der Leute, die für die Kunden durch die Städte preschen, kümmern sich die Firmen seinen Erfahrungen zufolge kaum.

So berichtet er von einem Kollegen, der trotz Lungenentzündung gefahren ist, weil er sich keinen Ausfall leisten konnte. Warum er den Job überhaupt angenommen habe, wird Mittenmayer bei der Lesung gefragt. „Aus ökonomischer Verzweiflung“, antwortet er. „Um die Abendschule und mein Abi zu finanzieren.“ Das habe System, meint Tobias Horoschko, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Lieferando in Bremen. „Es wird ganz gezielt nach Leuten gesucht, die den Job brauchen.“

Dann die Wende: Irgendwann hat sich Mittenmayer gewerkschaftlich engagiert. Er hat einen Betriebsrat gegründet, war Vorsitzender, hat das Abi geschafft, einen Bachelor in Politikwissenschaften in Marburg absolviert, die Kampagne „Liefern am Limit“ mit organisiert. Unermüdlich kämpft er seither für soziale Gerechtigkeit und faire Arbeitsbedingungen. „Es bewegt sich etwas, aber wahnsinnig langsam“, meint er.

Gerade macht Mittenmayer seinen Master in Kassel, unterstützt durch ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung. Er wirbt für gewerkschaftliches Engagement. Es gebe noch viel zu tun, damit es besser werde, betont er und ergänzt, Kunden könnten sofort etwas tun: „Die Rider freuen sich immer über ein großzügiges Trinkgeld, denn das kann häufig einen entscheidenden Einfluss darauf haben, wie viel man am Ende unterm Strich übrig hat.“